: Beim Wiener Walzer wirds gefährlich
Tempo In Bremen treffen sich jede Woche Paare zum Rollstuhltanz. Statt des üblichen „Rück, Seit, Tap“ heißt es hier eben „Schub, Zug, Brems“. Aber viele Gehbehinderte glauben, sie wären einem Tanzkurs nicht gewachsen
von Karolina Meyer-Schilf
Zum Aufwärmen gibt es erst einmal einen langsamen Walzer. Während nach und nach die Tanzpaare eintrudeln, legt ein Paar schonmal los: Nicole und Peer Klausing rollen parallel zueinander über das glänzende Parkett. Sie nehmen Schwung, fahren einen Bogen aufeinander zu, verharren kurz in einer Art Wiegeschritt und umfassen sich dabei an den Armen. Dann stoßen sie sich voneinander ab und fahren jeder einen Halbkreis, um sich erneut zu treffen.
Sie haben ein strahlendes Profi-Tanzlächeln aufgesetzt, die Choreographie sitzt perfekt: „Die sind erst seit Sommer dabei, aber sie sind schon viel weiter als wir,“ sagt Petra Poggenhorn, die mit ihrem Mann Uwe seit Gründung der Rollstuhltanzgruppe vor neun Jahren dabei ist. Trainiert wird immer mittwochs in den Räumen des Tanzzentrums Gold und Silber im Bremer Stadtteil Walle.
Die derzeit vier Stammpaare „kommen, egal was passiert“, sagt Gründerin Poggenhorn. Manchmal auch vergebens, so wie vor zwei Wochen: Da war der Fahrstuhl kaputt und ohne den kommt niemand mit Rollstuhl in den ersten Stock hinauf, wo die Tanzschule ist. Das Problem hatten sie vor einigen Jahren schon einmal, damals haben sie das Training kurzerhand in die Tiefgarage verlegt: „Wir haben die CD einfach übers Autoradio abgespielt und dann eben dort getanzt“, erinnert sich Petra Poggenhorn.
Diesmal aber klappt alles, und während Nicole und Peer Klausing weiter ihre Runden im Dreivierteltakt drehen, bereiten sich die anderen auf die Tanzstunde vor. Petra Poggenhorn und ihr Mann Uwe tauschen als Erstes die Vorderräder ihres Rollstuhls aus. Die normalbreiten Gummiräder eignen sich nicht gut zum Tanzen, sie werden gegen schmalere, feste Räder getauscht.
Die Profis haben eigens angefertigte Sportrollstühle mit angewinkelten Rädern zum besseren Halt, aber so ein Profirollstuhl ist teuer: 4.000 bis 5.000 Euro kostet er, und das lohnt sich eigentlich erst, wenn man den Sport professionell betreibt.
Die Bremer Rollstuhltanzgruppe trainiert einmal die Woche gemeinsam, außerdem übt jedes Paar auch zu Hause. Sie tanzen alles, was das Standard- und Lateinrepertoire hergibt. An Tanzturnieren nehmen sie nicht teil, aber gelegentlich absolvieren sie öffentliche Auftritte, und für Veranstaltungen buchen kann man die Gruppe auch. Dann tanzen sie in Formation.
„Wir haben nicht den Ehrgeiz, an Turnieren teilzunehmen“, sagt Uwe Poggenhorn. „Außerdem trainieren die Profis fünf Tage die Woche, dafür muss man erstmal Zeit haben.“ Die Teilnahme an Turnieren setzt außerdem regelmäßige, auch weite Fahrten voraus. So viele Rollstuhltanzgruppen gibt es im Norden nicht, daher sind die Wege – wie eigentlich immer im Behindertensport – weit.
Von den derzeit vier festen Paaren sind Nicole und Peer Clausing das einzige „Duopaar“. Die anderen sind sogenannte Kombipaare, das bedeutet: Einer sitzt im Rollstuhl, der andere ist „Fußi“, also Fußgänger. „Die Tanzschritte für die Fußgänger sind im Prinzip dieselben wie beim Standardtanz auch“, erklärt Trainer Stefan Felten. Er ist seit 25 Jahren Tanzsporttrainer und hat eine Zusatzqualifikation im Rollstuhltanz absolviert. Und auch die RollstuhlfahrerInnen rollen nicht einfach irgendwie im Takt hin und her: „Natürlich müssen wir auch Tanzschritte befolgen“, sagt Petra Poggenhorn. Statt des üblichen „Rück, Seit, Tap“ heißt es hier eben „Schub, Zug, Brems“.
„Tanztrainer sehen den Fehler sofort“, sagt die 48-Jährige. Sie hat mit ihrem Mann und der Gruppe viele Workshops besucht. Beim Rollstuhltanzen kommt es wie bei den Fußgängern auf die Körperspannung an. Es braucht nicht nur Muskelkraft in den Armen, um dem Rollstuhl Schub zu geben, sondern der Oberkörper muss eine Tanzhaltung entwickeln.
„Bei einem meiner ersten Workshops in Duisburg sagte der Trainer: ‚Wir lernen jetzt sitzen‘,“ erinnert sich Poggenhorn. „Da hab’ ich zu ihm gesagt: ‚Meister, ich sitze seit über 40 Jahren, glaub mir, ich weiß, wie das geht‘.“ Die Antwort des Trainers: „Das denkst auch nur du.“
Die 48-Jährige lacht, als sie das erzählt, heute weiß sie es ebenfalls besser: „Auf die Arme und auf die Rückenmuskulatur kommt es an. Man sitzt ganz anders beim Tanzen.“ Die richtige Tanzhaltung ist nicht nur für die Optik wichtig, sondern verhindert auch, dass der Rollstuhl bei besonders rasanten Kurven und Drehungen umfällt. In Profi-Wettbewerben, wo RollstuhlfahrerInnen teilweise halsbrecherische Sprünge und Manöver tanzen, sind die Tänzer sogar im Rollstuhl angeschnallt.
In Bremen-Walle geht es mit einer Rumba weiter. Und obwohl die Tanzfläche zunächst riesig erscheint für die vier tanzenden Paare, wird schnell klar: Den Platz brauchen sie auch. Der Rollstuhl muss manövriert werden, allzu rasant in enge Kurven zu gehen, empfiehlt sich trotz perfekt trainierter Rückenmuskulatur nur bedingt.
Zudem müssen die TanzpartnerInnen mehr Abstand zueinander halten als unter reinen Fußgänger-Tanzbedingungen, der Rollstuhl nimmt naturgemäß mehr Platz am Boden ein als ein paar Füße. Die TänzerInnen müssen sich auch auf den besonderen Größenunterschied einstellen, der dadurch entsteht, dass eben einer beim Tanzen sitzt, während der andere stehend tanzt.
„Die größte Herausforderung im Rollstuhltanz“, sagt Trainer Stefan Felten, „ist, dass es so individuell zugeht: Jedes Paar kriegt eine eigene Choreographie“ – je nach den persönlichen Voraussetzungen und auf die individuellen Möglichkeiten zugeschnitten. Er entwickelt alle Choreographien für die Bremer Tanzgruppe selbst. Inspiration holen sich die RollstuhltänzerInnen aber auch bei gemeinsamen Ausflügen, etwa zu den „Berlin Dance Days“.
Aktuell könnte die Gruppe durchaus noch Unterstützung gebrauchen: „Wir suchen immer noch Leute“, sagt Petra Poggenhorn, „möglichst mit Partner.“ Denn was bei Fußgänger-Tanzkursen schon schwierig ist, nämlich genug Männer aufzutreiben, gilt beim Rollstuhltanz vielleicht noch mehr. Viele Menschen wissen gar nicht, dass es das Angebot gibt, andere trauen sich nicht oder zweifeln, ob sie trotz ihrer Gehbehinderung einem Tanzkurs gewachsen wären.
„Eine Tanztrainerin in Berlin hat mal gesagt: ‚Man muss nicht laufen können, um tanzen zu können‘“, erzählt Petra Poggenhorn. Wie wahr der Satz ist, zeigt sich spätestens beim Höhepunkt des Abends: Trainer Stefan Felten macht jetzt die Tanzfläche frei für den Wiener Walzer. „Zwei Paare maximal!“, ruft er in den großen Raum, und die Hälfte der Anwesenden sieht zu, schnell vom Parkett zu kommen. „Das wäre sonst zu gefährlich, weil Wiener Walzer: Das ist Tempo.“
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