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Raubtiere abschrecken

FestivalEin Loten, was da alles so möglich ist im vokalen Ausdruck, auch sogar Gesang: Bei Ultraschall wird dieses Jahr besonders auf die Stimme in der Neuen Musik gehört

von Thomas Mauch

Ganz nah. Wenn man zum Beispiel einfach mal zuhört, wie ein Kind in den Schlaf gesungen wird. Die gleiche Arbeit, nur am Klavier verrichtet, funktioniert nicht so recht.

Und um es mit einem älteren Titel der Rolling Stones zu sagen: It’s the singer not the song. Es ist die menschliche Stimme, die eine unmittelbare Nähe schafft, eine emotionale Ansprache, der man sich auch nur schwer entziehen kann.

Was ja genau der Grund ist, wieso bei der durchaus ausgiebigen Easy-Listening-Produktion der sechziger und siebziger Jahre auf den Gesang meist generös verzichtet wurde. Weil sie eben als Nebenbeimusik konzipiert war, die gar nicht wirklich gehört werden sollte, sondern mehr – als akustische Tapete – im Hintergrund wirken. Die menschliche Stimme würde dabei eher stören. Eine Wiedererkennbarkeit von Musik wollte man aber schon, und deswegen wurden meist einfach die gerade einschlägigen Hits in emotional heruntergedimmten Versionen instrumental eingespielt.

Wenn tatsächlich mal gesungen wurde, blieb es bestenfalls bei einem süffig mit Streichern verpackten La-la-la. Was natürlich, so nett im Happy Sound an den Ohren vorbeiflutschend, schon auch eine Botschaft ist.

Neue Stimmen, neue Musik

Seinen festen Platz im Konzertkalender hat Ultraschall, das Festival für Neue Musik, traditionellerweise im Januar – wenn das Jahr selbst noch einigermaßen frisch ist. In seinem 19. Jahrgang sollen bei Ultraschall im Besonderen die unterschiedlichsten Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme ausgelotet werden.

Das Festival startet am Mittwoch, 18. Januar, und dauert bis zum 22. Januar. Bei den Konzerten im Haus des Rundfunks, Radialsystem und Heimathafen Neukölln werden zahlreiche Uraufführungen zu hören sein. Karten zu den einzelnen Konzerten gibt es von 10 bis 18 Euro. Info und Programm: ultraschallberlin.de

Veranstaltet wird das Festival von Deutschlandradio Kultur und rbb-Kulturradio. Alle Konzerte werden – teilweise live – in den beiden Programmen im Radio zu hören sein.

Mit so einem La-la-la oder anderen Lauten und Silben, die sich gar nicht zu einem lesbaren Text formieren wollen, kann allerdings auch ganz was anderes gesungen werden: exaltiert, fordernd, in einer bedrängenden Klage. Wie in dem Chorstück „Nuits“ von Iannis Xenakis beispielsweise. Man darf es durchaus als Heavy Listening bezeichnen. Beim Ultraschall-Festival ist das Stück aus dem Jahr 1967, das der griechisch-französische Komponist übrigens ausdrücklich allen politischen Gefangenen gewidmet hat, zu hören.

Bei dem am Mittwoch startenden Festival für neue Musik soll es im 19. Ultraschall-Jahrgang mal besonders um die Stimme gehen. Deren unterschiedlichsten Ausdrucksmöglichkeiten sollen ausgelotet werden, vom Solo-Recital über vokale Kammermusik bis hin zum großen Orchesterlied.

Und es wird nicht nur gesungen. Auch der Sprechstimme ist ein Platz eingeräumt bei dem Festival, und was man mit der Stimme sonst so alles machen kann, röcheln, gurgeln und irgendwie Laut geben. Wie man das bei einer Plattform für neue, zeitgenössische und eben auch experimentelle Musik erwarten darf.

In ihrem Programm „All the Many Peopls“ lässt dabei die irische Vokalartistin und Performerin Jennifer Walshe Texte aus unterschiedlichsten Quellen aufeinanderknallen, Fundstücke aus dem Netz, ein furioser Reflex auf die Informationsüberflutung. Stimmen. So viele Stimmen. Und ein Zuruf aus alter Zeit: Die schwedische Komponistin Karin Rehnqvist lässt ihn hören mit dem Rückgriff auf eine archaische Gesangstradition, dem Kulning. Eine dem Jodler verwandte vokale Technik, die von Schaf- und Ziegenhirtinnen in den Bergen Schwedens praktiziert wurde, um sich über lange Distanzen hinweg zu verständigen, um ihre Tiere zu rufen oder auch Raubtiere abzuschrecken. Bei Ultraschall wird Kulning nun eben in einen Kunstkontext eingestellt.

Es ist die menschliche Stimme, die eine unmittelbare Nähe schafft, eine emotionale Ansprache

Und wenn es um die Stimme in der Neuen Musik geht, kommt man an Dieter Schnebel kaum vorbei. In einer Lecture-Performance wird der Schauspieler Gerd Wameling ein Essay des ausgesprochen stimmeninteressierten Komponisten präsentieren, „Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken)“: „Sänger fauchen, zischen, keuchen …“

Wobei diese besondere Betonung der Stimme in einem Programm andererseits eben auch heißt, dass sie, ob da nun gesungen wird oder gefaucht, nicht unbedingt der „Normalfall“ in der Neuen Musik ist. Selbst wenn sie in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen haben mag: Im Wesentlichen, weiß Rainer Pöllmann vom Deutschlandradio Kultur und zusammen mit Andreas Göbel vom Kulturradio Leiter des Festivals, ist die Welt der zeitgenössischen Musik instrumental, und „die Stimme ist darin ‚das Andere‘.“

Das Andere, dem manchmal eben mit Misstrauen begegnet wird. Fremd und nah, dem Körper eingeschrieben: die Stimme. Existenziell.

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