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Zwischen Nervosität und Gelassenheit geht noch ein Tee

GEKRÖSE Großer Unbekannter aus dem Baltikum: Die experimentelle Elektronik des Litauers Gintas Kraptavičius. Sein neues Album „Low“ ist eine Entdeckung

Ein Rauschen schleicht sich an; und es kommt nicht allein. Da sind grandiose Sounds, die an das Einwahlgeräusch eines antiken Modems erinnern, dann bimmeln Glöckchen, eine Orgel pumpt. Leicht kratzige Synthesizerdecken werden aufgelegt, bis das Ganze in einem Schwall von white noise endet. Mit dieser ungestümen Eröffnung leitet der litauische Experimentalmusiker Gintas Kraptavičius sein aktuelles Album „Low“ ein.

„Pri“ heißt das Stück. Es ist eines von insgesamt elf, auf denen der Künstler wechselnde Aggregatszustände erkundet: Unruhe, abrupte Brüche und nervöse Morsesignale neben Gelassenheit, elektronischer Einkehr und majestätischen Soundschleifen. Das kann in schönster Gleichberechtigung in einem Stück wie „Tas“ passieren, an anderer Stelle, so in „Pazr“, oder dem siebenminütigem „Po“ fokussiert Kraptavičius auf die meditativen Momente seines Spiels, das ein durchaus sinnliches ist. Elektronische Musik kann ja dadurch wirken, dass sie ihre Künstlichkeit, ihre Technik gerade in den Vordergrund rückt; Kraptavičius’ Klänge sind durchweg organisch geraten.

Kraptavičius, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet im westlitauischen Marijampolė. Er ist auf der transmediale in Berlin in den Jahren 2005 und 2007 aufgetreten. Seit 1994 veröffentlicht er Musik. Den Anfang machte die litauische Industrial- und Elektroband Modus, mit der er zwei Kassettenalben einspielte: „Užsikrėtę Mirtimi“ (1995) und „Megaukis Tyla“ (1998). Musik, die so ungemütlich wie verspielt wirkt und auf der Onlineplattform www.archive.org nachgehört werden kann. Seit 1999 verwendet Kraptavičius für seine Veröffentlichungen das Namenskürzel Gintas K.

Sein Solodebüt „Invite Round For A Cup Of Tea“ erschien 1999 als selbstverlegte Kassette und ist tatsächlich die Interpretation einer Teezeremonie mit einem alten russischen Samowar, als Performance in Vilnius, Kaunas und im russischen Perm aufgeführt. Das Publikum durfte mittrinken, der Sound des Samowars aktivierte das Mikrofon.

Organische Form

Kraptavičius erklärt seine Arbeitsweise: „Das Besondere an der Performance ist, dass sie alle notwendigen Elemente einer musikalischen Komposition enthält: die natürliche, organische Form, wechselnde Rhythmen, viele Klangfarben und ausdrucksstarke Dynamiken – von ‚PPP‘ bis ‚FFF‘.“ Hast Du Töne! Seitdem hat Kraptavičius in einigen Jahren gleich fünf bis sechs Alben veröffentlicht.

Es ist zu verführerisch, in „Low“, seinem 35., einen Verweis auf das gleichnamige, frostige Angebinde von David Bowie und Brian Eno aus dem Jahr 1977 zu hören. Aber an dieser Stelle muss Kraptavičius enttäuschen, wenn er unumwunden zugibt, Bowies berühmtes Werk niemals gehört zu haben. Dabei ist auch sein „Low“ Teil einer Trilogie, einer, die es freilich beschließt. Sie begann 2009 mit „Lovely Banalities“ (Crónica) und wurde 2013 mit „Slow“ (Baskaru) fortgeführt. „Slow“, ein mit der Melancholie vertrautes Album, bot zwölf Soundminiaturen, somnambulen Elektrojazz, die Klänge einer sich stoisch abspulenden, schläfrige Spieluhr inmitten behutsam verwobener Geräusche wie zerklüfteter, scharfkantiger Blöcke.

„Low“ kann man als das deutlich dunklere, harschere Album hören. Kraptavičius hat überhaupt nichts gegen eine solche Deutung, doch möchte er lieber von einer Fortführung sprechen. Er sitzt bereits an der nächsten Produktion. Bowies „Low“ hört er sich bei Gelegenheit mal an, verspricht er dann noch. Robert Mießner

Gintas K: „Low“ (Opa Loka Records)

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