: Die meisten Deutschen bräuchten Therapie
Witz Die israelische Schauspielerin Orit Nahmias ist eine der auffälligsten Protagonistinnen im Ensemble des Maxim Gorki Theaters. Auf der Bühne spielt sie stets die schlagfertige, intelligente und sarkastische Frau – also sich selbst. Am Sonntag hat ihre Show „Female Shit“ Premiere
von Barbara Behrendt
„Jeder Satz ein Treffer.“ Das, sagt Orit Nahmias, sei das Motto ihrer One-Woman-Show, die alle paar Monate im Gorki-Studio läuft. Es könnte auch das Motto des Gesprächs sein, das wir nach den Feiertagen in der Theaterkantine führen.
Das Gespräch beginnt so: „Möchten Sie auf Deutsch oder auf Englisch sprechen?“ – „Auf Englisch. Ich mache meine Therapie auf Deutsch, und das führt leider dazu, dass ich keinen Schimmer habe, was meine Therapeutin mir erzählt.“ – „Was ist das für eine Therapie?“ – „Keine Ahnung, eine ganz normale. Diese Frau war die einzige, die auf meinen Anruf reagiert hat. Ich habe ihr von meinem suizidalen Vater erzählt und von meiner Mutter, die ihm die Tabletten weggenommen hat. Sie sagte: Ist ja furchtbar! Ich fragte: What do you mean by furchtbar? Sie: Dass ihre Mutter die Tabletten geklaut hat; wenn jemand sterben möchte, sollte er das dürfen. Da wusste ich: Ich habe die richtige Therapeutin gefunden.“
Ob sie bei jedem Gespräch schon im ersten Satz auf ihre Therapie zu sprechen komme, frage ich – die Deutschen redeten darüber eher selten öffentlich. Nahmias: „Dann sollten sie wenigstens hingehen, wenn sie schon nicht drüber sprechen. Die meisten Deutschen, die ich kenne, hätten eine Therapie bitter nötig. Und ihr habt ja keine Ahnung, was für ein Glück es ist, dass das eure Krankenkasse zahlt. How can you not benutz it?“
Die Pointen knallen
Die Pointen knallen nur so. Meist auf Englisch, ein bisschen Deutsch ist beigemischt. Nahmias’ Deutsch wird immer besser – anfangs war sie eine der wenigen Schauspielerinnen, die ohne Sprachkenntnisse an einem deutschen Stadttheater angestellt wurden. Die israelische Regisseurin Yael Ronen, die Nahmias noch aus dem Studium in Tel Aviv kennt, hat sie 2008 für die israelisch-palästinensisch-deutsche Geschichtsstunde „Dritte Generation“ nach Deutschland geholt. Seit 2012 lebt Nahmias nun mit ihrem Mann, der ebenfalls Israeli ist, und ihrem kleinen Sohn in Berlin und tritt in jeder Ronen-Arbeit am Gorki auf. Ronen entwickelt ihre semi-dokumentarischen Stücke oft gemeinsam mit dem Ensemble – und immer ist Nahmias darin eine zentrale Akteurin. Manche nennen sie sogar Ronens Bühnen-Alter-Ego. In „Dritte Generation“ konfrontiert Nahmias sich selbstironisch mit ihrer zerrütteten Beziehung zu Palästinensern und Deutschen; in der Balkankrieg-Recherche „Common Ground“ gibt sie den Profi für ausweglose Konflikte; in „Erotic Crisis“ ist sie der untervögelte weibliche Teil eines sexuell frustrierten Ehepaars.
Nahmias spielt stets Komödie, im besten Sinne. Je nach Stoff führen ihre Pointen zu sanftem Schmunzeln, hysterischem Kichern oder einem aus der Magengrube schmerzlich aufsteigenden kalten Lachen – ins Leere führen sie nie. Ihre Texte schreibt sie selbst, in Abstimmung mit Ronen. Wichtig ist den beiden eng befreundeten Künstlerinnen, Geschichten zu erzählen, mit denen sich das Publikum identifizieren kann – und das gelingt ihrer Meinung nach am besten über den Humor. „Ich möchte die Zuschauer nicht zum Lachen bringen, sondern zum Zuhören bei oft schlimmen, tragischen Geschichten. Das geht nur mit Humor“, sagt Nahmias.
Ronens Arbeitsweise lässt sich mit einem Wort beschreiben, das im heutigen Theater angesagter nicht sein könnte: Authentizität. Es mag sich nicht alles auf der Bühne genau so auch in der Realität ereignet haben – der Kern jeder Geschichte ist jedoch wahr. In „Denial“, einem Stück über das Phänomen der Verdrängung, spricht Nahmias über ihren dementen Vater: Er kündigt jahrzehntelang seinen Selbstmord an – verschweigt aber die Arbeit für den israelischen Geheimdienst und plappert erst mit fortschreitender Demenz die brutalen Details aus. „Ich muss diese Dinge auf der Bühne aussprechen, um sie zu verdauen“, sagt sie. Aber so tiefernst kann sie den Satz kaum stehen lassen. „Meine Eltern waren exzellente Lügner. Man könnte sagen: Ich komme aus einer großen Schauspielerfamilie!“
Als ihre Mutter zu Besuch war, hat die Tochter ihr den „Denial“-Besuch allerdings ausgeredet. Und in Israel würde sie es nie wagen, mit der Inszenierung aufzutreten. „Es würde zu viele Menschen verletzen.“ Eine Rückkehr in die Heimat kommt für sie nicht infrage. „In Israel interessiert sich niemand für diese Art von Theater, es ist alles sehr konservativ. Ich hoffe, ich muss nie dorthin zurück.“ In Tel Aviv war sie arbeitslos, sah keine Perspektive für sich, fühlte sich unfrei. Dass sie als Israelin nun ausgerechnet in Berlin Karriere machte, ohne Deutschkenntnisse, empfindet sie als beinahe absurd. Und als großes Glück. Erst in Berlin sei sie intensiver mit Palästinensern in Kontakt gekommen, die lebenslangen Krieg im eigenen Land erfahren haben. Das habe ihre Perspektive verändert.
Dass die Schauspielerin dieses Jahr 40 wird, sieht man ihren rosigen Wangen kaum an. Sie spricht schnell, vergisst die Kaffeetasse, springt von einem Thema zum nächsten. Zwischendurch muss ein „Happy New Year!“ an die Kollegen gerufen werden – manchmal verschenkt sie noch enthusiastisch ein Kompliment. „Deutsche sollten lernen, ihre Wertschätzung auszudrücken. Wenn ich einem Kollegen hier sage, dass er einen guten Job macht, ist er schockiert.“ Deutsche seien es einfach nicht gewöhnt, gelobt zu werden.
Nahmias bricht Tabus, wo sie kann. Am besten geht das, wenn sie mit eigenen Texten auf der Bühne steht. Für ihr Mono-Drama „Why me?“ wurde sie schon 2008 bei einem israelischen Theaterfestival ausgezeichnet. Jetzt, an diesem Sonntag, hat eine neue Folge ihrer Stand-up-Show im Gorki-Studio Premiere: „Female Shit“. Es geht dort über ihre Eltern, ihren Mann, ihre Therapeutin „und meine Vagina in allen erdenklichen Aspekten“. Witz und Schamlosigkeit sind es wohl auch, die Ronen und Nahmias verbinden. Was viele an der Schauspielerin taktlos nennen, sagt sie, finde die Regisseurin wichtig. Was andere vulgär nennen, finde Ronen lustig. Nahmias ist froh, sich ständig neu ausprobieren zu können, während ihre Freundin das große Ganze im Blick behält.
Oft hat man im Gespräch den Eindruck, man höre Nahmias’ Bühnenfiguren zu – diesen schlagfertigen, intelligenten, sarkastischen Frauen, die einen auch zum Weinen bringen können. Die eine so herzlich vertraute Verbindung mit dem Publikum aufbauen, als stehe da die beste Freundin auf der Bühne. Innerhalb des zweistündigen Interviews durchläuft man gemeinsam die komplette Gefühlspalette: Man spielt sich die Pointen zu, psychologisiert über Eltern und Kinder, tauscht Erfahrungen aus, die der Interviewten die Tränen in die Augen treiben – und die Interviewerin bekommt nebenbei einen feministischen Crash-Kurs in „Wie schlage ich bei einer Gehaltsverhandlung so viel Geld heraus wie ein Mann“. Später, draußen in der kalten Januarluft, fragt man sich: Wer war es nun, mit dem man sich so rege unterhalten hat? Mit dem Menschen Orit Nahmias? Der Künstlerin? Einer ihrer Rollen? Was sind die Unterschiede?
Nahmias weiß sehr genau um ihre Fähigkeit, die Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Sie beherrscht alle Techniken des wirkungsstarken Erzählens – und trotzdem, sagt sie, sei ihre Verwundbarkeit auf der Bühne wie im realen Leben ihr höchstes Gut: „Meine Offenheit ist mein Schutz. Sich auf der Bühne nackt zu machen, ist ein Beweis deiner Kraft. Wenn du es dann noch schaffst, dass sich ein Zuschauer ebenso befreit und stark fühlt …“ Es folgt einer ihrer Sprachmixe: „I know it sounds kitschig – but it gives so much meaning to your work.“
Was möchte sie sein?
Was möchte sie nun sein: eine sich in Rollen einfühlende Schauspielerin? Eine sich selbst spielende Performerin? Das, wovon Nahmias spricht, definiert man heute als Performance in Reinkultur: Ein Mensch macht auf der Bühne sein Leben, sein Empfinden zum Thema. Nahmias sind die diskursüblichen Unterscheidungen aber so fremd wie unerheblich: „Ich bezeichne mich als Schauspielerin – aber wenn ‚Performerin‘ angesagter klingt, schreiben Sie ‚Performerin‘.“ Man sei auf der Bühne nicht weniger man selbst, wenn man die Geschichte einer anderen Figur erzähle.
So einfach, stellt sich dann aber heraus, ist es wohl doch nicht. In Sebastian Nüblings Inszenierung „In unserem Namen“ fand es Nahmias schwierig, einen Text zu sprechen, den sie nicht recht greifen konnte. Nübling gab ihr die Freiheit, einen eigenen zu schreiben – dann flutschte es. In Ronens „Feinden“, die auf einem jiddischen Roman beruhen, sollte Nahmias in die Figur der Yadwiga, eines einfachen, betrogenen Bauernmädchens, schlüpfen. Damit tat sie sich so lange schwer, bis sie schließlich in der Figur Anteile ihrer Mutter entdeckte. Im Zentrum steht bei ihr also stets die Frage nach dem eigenen Ich in der jeweiligen Rolle. Theaterarbeit hat für Orit Nahmias etwas von lebenslanger Therapie und Selbsterforschung – wie passend ist es da, dass Yael Ronen gern als die Gruppentherapeutin unter den Regisseurinnen bezeichnet wird.
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