Gläubischenfantasie: Bethlehems Krippe, Norddeutschlands Stall

Der zentrale Ort des Weihnachtsmythos ist der Stall. Heute freilich dient er einer Produktionsoptimierung, die sich kaum als erfülltes Leben bezeichnen lässt

Hat wenig mit der landwirtschaftlichen Realität zu tun: Die Weihnachtskrippe im Wohnzimmer Foto: Jean-Philipp Baeck

Weihnachten steht ein sonst eher wenig beachteter landwirtschaftlicher Zweckbau im Zentrum: der Stall. Selbstverständlich ist er theologisch nicht die Hauptsache und es ist bekannt, dass ihn die kanonischen Schriften noch nicht einmal erwähnen: Was vorkommt, ist der Futtertrog oder die Krippe, phatné, in den das neugeborene Kind Jesus gelegt wird, von dem Christen glauben, es wäre Gott und sein Sohn. In für einen literarischen Text typischer Unterdeterminierung überlässt das Lukas-Evangelium den LeserInnen, sich vorzustellen, wo sich dieses Notbett befindet. Nur eins stellt es ironisch klar: Ein Empfangs- oder Gastraum war’s nicht.

Eher humorfrei konventionell hat die Gläubischenfantasie diese Leerstelle ausgefüllt: Eine Futterkrippe steht in einem Stall. Schon im vierten Jahrhundert etabliert sich dieses Setting in der christlichen Ikonografie – und mit ihr wird, eher unbewusst, die Reflexion der Tierhaltungspraxis und der agrarischen Kultur zum Bestandteil weihnachtlicher Rituale. Im byzantinischen Raum sind Grotten und Felshöhlen die üblichen Schutzstätten, im Westen findet man oft rohe Holzkonstruktionen mit Schrägdach. Der imaginäre Stall dient, gerade weil er sich, funktional konstant, genremalerisch den jeweiligen regionalen Gepflogenheiten anpasst, als Verbindung zwischen erzähltem antik-orientalischem Geburts-Mythologem und eigener, landwirtschaftlich geprägter Wirklichkeit: die Fülle des Lebens einschließlich der wirklich dreckigen Tiefen, mein Gott, im Koben!

Das Weihnachtsfest ist womöglich auch deshalb stets populärer gewesen als die theologisch bedeutendere Passionszeit. Deren Accessoires, zumal die radikal aus der Mode gekommene Hinrichtungsmethode der Kreuzigung, konnten auch im Mittelalter nicht direkt im eigenen Leben und Sterben wiedergefunden werden. Die historische Distanz lässt sich bei ihr deshalb nicht ignorieren – anders als bei Weihnachten, dessen Mythos so lange auch jenseits des Rituals in der Wirklichkeit projiziert werden kann, bis sich der Stall vom Lebensraum für Haustiere zu einer durchgetakteten Sondereinrichtung entwickelt hat. Die kann man als eine Fabrik verstehen, deren Maschinen auf einen einzigen Zweck beschränkte Tiere sind – Nutztiere.

Diese Ställe sind reine Funktionsräume, optimiert im Hinblick darauf, den Stress der Tiere zu minimieren: Es geht ausdrücklich nicht um Qual in diesen Einrichtungen. Im Gegenteil, viele Wissenschaftler setzen Stressminimierung mit Tierschutz gleich. Das ist richtig, so lange man von einer Autonomie des Tiers absieht, es also wirklich nur als fühlendes Ding betrachtet und auf seinen Nutzen als Eier- oder Fleischlieferant reduziert.

In den aus diesem Geist entwickelten Ställen realisieren Tiere ein Maximum an Reproduktion oder an Gewichtszunahme in möglichst kurzer Zeit – was sie wirklich nicht täten, wenn sie messbar litten. Allerdings, auch wer das für praktisch hält, sicher, gut und sauber, kann kaum behaupten, dass diese Frist mit dem gleichgesetzt werden kann, was der Begriff Leben bezeichnet: Genau wie Religion spielt dieses Konzept in Norddeutschlands Ställen keine Rolle. Dort gibt es kein Weihnachten.

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