Die Autorin Jutta Voigt ist eine der wichtigsten Stimmen ostdeutscher Befindlichkeiten. In ihrem neuen Buch schreibt sie über das süße Leben der Boheme in der DDR – die Trilogie über die Alltagskultur der DDR ist damit komplett. Ein Gespräch über weinselige Abende, den Prenzlauer Berg damals und heute, alte und neue Freiheiten
: „Ostalgie ist es
jedenfalls nicht“

„Der Mensch braucht den kleinen Rausch, sonst fängt er an zu revoltieren“, sagt Jutta Voigt, hier in der Restauration 1900, zwar mit Blick auf das Leben in der DDR – doch die Aussage passt aufs Heute auch wunderbar

Interview Thomas Winkler
Fotos Lia Darjes

Beim Makler gibt es 95 Quadratmeter Prenzlauer Berg für 548.000 Euro. Ein paar Meter weiter belgische Trüffel, französische Feinkost, Sushi, Begegnungsstätte, Marrakesch Art & Lifestyle, „20-Prozent-Sale“ bei Kleid & Schuh, davor ein Container mit Bauschutt. Der Prenzlauer Berg hat sich verändert, aber im „Bücherwald“, wo man alte Bücher gegen noch ältere eintauschen kann, steht neben John Grisham auch ein Gedichtband von Bert Papenfuß, einem jener Bohemians, denen Jutta Voigt in ihrem neuen Buch „Stierblutjahre – Die Boheme des Ostens“ ein Denkmal setzt. Nicht weit vom „Bücherwald“ ist der vermutlich letzte unrenovierte Altbau in der Sredzkistraße eingerüstet. „Hier realisiert die Berliner Mietergenossenschaft SelbstBau e. G. ein beispielgebendes Projekt des gemeinschaftlichen, altersgerechten und inklusiven Bauens und Wohnens.“ Zehn Minuten später dann in der „Restauration 1900“, wo sich vor und auch noch nach dem Mauerfall die Boheme drängelte. Jutta Voigt bestellt ein kleines Glas Weißwein, soviel Boheme muss sein, auch an einem Montag um 12 Uhr mittags.

taz: Guten Tag, Frau Voigt, sehen Sie mal, was ich im Bücherwald gefunden habe.

Jutta Voigt: Ist ja’n Ding, Papenfuß im Bücherwald!

Der Lyriker Bert Papenfuß, führendes Mitglied der damaligen „Prenzlauer-Berg-Connection“, war wahrscheinlich auch öfter hier im 1900.

Davon kann man ausgehen.

Macht Sie der Laden sentimental?

Merkwürdigerweise. Vielleicht liegt es daran, dass sich das 1900 äußerlich gar nicht so sehr verändert hat. Aber es hat sich natürlich vollkommen verändert, es gab einen Flügel damals, und die Leute drängelten sich hier drin, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die damaligen Betreiber sperrten die Tür mit einer Kette und gewährten ihren Gästen nur schubweise Einlass, sie konnten nicht anders, auch Beliebtheit hat ihre Grenzen.

So beschreiben Sie in Ihrem Buch die Zeit vor dem Mauerfall: „Sie standen Rücken an Rücken im 1900, dem schicken neuen Treffpunkt der Boheme, der älteren und der jüngeren … sie standen Rücken an Rücken, ohne sich zu berühren.“ Heute ist das 1900 eine Kneipe unter vielen. Was ist es für sie?

Ein Symbol für eine wahnsinnig aufregende und aufgeregte Zeit vor einem historischen Wendepunkt. In spannenden Zeiten ist auch das Ausgehen spannender. Und was man nicht unterschätzen darf: Das Essen hier war nicht schlappgekocht wie bei der HO, der Weißwein gut gekühlt, das war nicht selbstverständlich, das Wichtigste aber: Man war unter seinesgleichen, auch, wenn man unterschiedlich dachte, fühlte und lebte.

Sie schreiben: „Die Erinnerung erbleicht vor der eigenen Untreue“ – wo ist Ihnen die Erinnerung untreu geworden?

Ich halte Untreue immer für möglich, besonders, was die Erinnerung betrifft, die schillernd ist und unzuverlässig.

Hat sich schon einer der Protagonisten beschwert?

Bisher noch keiner. Stattdessen scheint es mir, als wäre „Stierblutjahre“ erwartet worden. Da spielt ein Gefühl mit, bei den Lesungen spüre ich das, ein unbestimmtes Gefühl, das ich nicht definieren kann, das ich auch nicht kalkuliert habe …

Ein Gefühl, das heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, viele vermissen?

Ostalgie ist es jedenfalls nicht, die Boheme war eine Randerscheinung, und sie war nicht populistisch. Es ist ein Gefühl, von dem man nicht wusste, nur ahnte, das man es vermisst. Kann sein, dass es die Verbindung von Übermut und DDR ist, von Melancholie und Heiterkeit. Eigentlich habe ich das Buch für den Westen geschrieben. Obwohl ich wusste, dass es dort vermutlich nicht gelesen werden würde, im Westen interessiert niemanden, dass im Osten nicht alles grau, alles gleich, alles Gänsemarsch war. Mir ging es immer um die Zwischentöne, die es schwer haben, sich gegen die Paukenschläge der Klischees durchzusetzen.

Enttäuscht Sie diese Haltung?

Nein, enttäuscht kann man doch nur sein, wenn man was erwartet. Vielleicht habe ich das Buch auch gar nicht für den Westen geschrieben, sondern für Peter, meinen Mann, der während meiner Arbeit an dem Buch gestorben ist. Kurz nach der Wende hatte er einen Film gemacht über die Ostberliner Boheme der Fünfzigerjahre, für den er von linken Westfreunden wegen seiner unverschämten Leichtigkeit – „und das in so einem Staat!“ –, mächtig kritisiert wurde. Vielleicht habe ich „Stierblutjahre“ auch für mich geschrieben, damit die Trilogie über die Alltagskultur der DDR komplett ist.

Ihr Buch schlägt den Bogen von den Fünfzigerjahren bis in die frühen Neunziger, erzählt von Prominenten wie Brecht, Krug oder Biermann, aber auch von vielen unbekannten Künstlern und Lebenskünstlern. Kann man sagen, Sie wollten diesen Figuren und einer verlorenen Zeit ein Denkmal setzen?

Denkmal … ja, kann man so sagen. Für mich war es keine verlorene Zeit.

Ist die Botschaft des Buches auch: Es war nicht alles schlecht in der DDR?

Jetzt nageln Sie mich ja auf was ganz Schlichtes fest – wenn ich witzig sein wollte, könnte ich jetzt sagen: Es war nicht alles gut in der DDR. Auch so eine Botschaft wäre mir zu langweilig in einem Buch über die Boheme. Die wahren Botschaften verstecken sich in den Details, im scheinbar Unwichtigen.

Was gilt es zu bewahren aus dieser Zeit, von diesem Leben?

Jutta Voigt

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Die Frau: Am 5. Juni 1941 in Berlin geboren, studierte Voigt Philosophie an der Humboldt-Universität, bevor sie 1966 Redakteurin beim Sonntag wurde. Nach Abwicklung der kulturpolitischen DDR-Wochenzeitung 1990 arbeitete sie für Freitag, Wochenpost und Die Woche. Bis heute ist sie Kolumnistin für Die Zeit. Ihre Essays und Reportagen gehören zum Großartigsten, was man in deutscher Sprache lesen kann.

Das Buch: In „Stierblutjahre – Die Boheme des Ostens“ (Aufbau Verlag, 272 Seiten, 19,95 Euro) arbeitet Voigt nicht zuletzt auch ihre eigene Vergangenheit auf. Madleen und Raphael – ihr Alter Ego und das ihres 2015 verstorbenen Mannes, des Brecht-Assistenten, Dramaturgen und Regisseurs Peter Voigt –, ziehen ungarischen Rotwein trinkend durch die Künstlerszene der DDR von den Fünfzigerjahren bis in die Nachwendezeit. Man trifft auf Helene Weigel, Wolf Biermann, Manfred Krug, Angelica Domröse, Wolfgang Kohlhaase, Peter Hacks, Einar Schleef, Eva-Maria Hagen und viele andere. Und man lernt, dass die DDR, zumindest ein gewisser, gar nicht so kleiner Teil von ihr, gar nicht so öde und grau und provinziell war. „Stierblutjahre“ bildet mit „Der Geschmack des Ostens” (2005) und „Westbesuch” (2009) eine Trilogie, in der Voigt versucht, DDR-Alltagskultur vor dem Vergessen zu bewahren. (to)

Oh Gott, was, ja was? Offenheit. Eine Offenheit der Menschen zueinander, die besonders in der Boheme verbreitet war. Kurz nach der Wende, als ich angefangen habe, Kolumnen für Die Zeit zu schreiben, hat die Chefredakteurin des Zeitmagazins bei unserem ersten Treffen in der Paris Bar mit ehrlicher Verwunderung gesagt: „Ich weiß nicht, Sie wirken so natürlich!“ Als ob das Natürliche auch im Privatleben ein Gegensatz zum Zivilisierten wäre. Sie meinte die ihr unvertraute Offenheit, die es im Westen, von Ausnahmen abgesehen, nicht geben kann, weil es immer um Konkurrenz geht. Und wo es bei Strafe einer vereitelten Karriere ungünstig ist, Selbstzweifel zuzulassen oder andere in seine Pläne einzuweihen. In der DDR ging es selten um Konkurrenz, weil es selten um Geld ging und es kaum Leistungsdruck gab. Klar, Konkurrenz hat auch gute Seiten, weil sie die Produktivität antreibt. Aber die persönliche Offenheit bewahren zu können, sie vielleicht sogar wieder zu einer Tugend zu erklären, wäre schon schön.

Warum funktionieren solche Figuren wie die, die Sie beschreiben, unter den Bedingungen des Westens nicht mehr?

Einzelne funktionieren möglicherweise noch so, aber eine solche Zusammenballung von Boheme in den Altstädten von Dresden, Leipzig, Erfurt, Jena, Chemnitz und vor allem im Prenzlauer Berg in Berlin, die war nur in der DDR möglich.

Das schreiben Sie ja auch in Ihrem Buch: Die Voraussetzungen für ein Leben als Bohemien „waren nicht schlecht in der DDR“. Waren sie nicht sogar paradiesisch? Billige Mieten, billiges Essen, billiger Schnaps und ein quasi nicht vorhandener Produktivitätsdruck. War die DDR selbst schuld an ihrer Boheme?

Absurder Weise ja. Das große Problem der DDR war neben lähmendem Stillstand und einer dogmatischen Kulturpolitik die Langeweile. Für ein Leben als Bohemien stellte der Staat unfreiwillig passende Umstände zur Verfügung. Die DDR war ja in ihren Anfängen durchaus künstlerfreundlich, als die Künstler aber nicht wollten wie die Partei, wurde es schwierig. Dazu kam, dass die Funktionäre, die von Kunst nicht allzu viel verstanden und der sowjetischen Kulturpolitik nacheiferten, sich den Künstlern unterlegen fühlten, wenig Humor hatten, noch weniger Sinn für Ironie.

Hat man diese Absurdität damals schon erkannt?

Darüber hat man in der Boheme nicht nachgedacht. Die Boheme hat gelebt, so leicht und gut und frei, wie es eben ging. Oder so melancholisch und galgenhumorig, wie die Umstände es provozierten.

Wie schnell haben Sie nach der Wende gemerkt, dass das vermeintlich freiheitlichere System ganz andere, neue Unfreiheiten vorhält?

Das musste ich nicht merken, das habe ich gewusst, ich hatte ja Philosophie studiert. Für mich ergaben sich neue Freiheiten. Zum Beispiel sollte man als DDR-Journalist nicht in der Ich-Form schreiben. Ich habe das trotzdem irgendwie gemacht, aber nach der Wende musste ich darüber überhaupt nicht mehr nachdenken, das Ich war nun selbstverständlich.

Noch ein schöner Satz aus Ihrem Buch: „Wenn die Freiheit unendlich ist, kommt die Melancholie.“ Gilt das für Ost oder für West?

Das gilt für alle Himmelsrichtungen.

Neigen Sie selbst auch zur Melancholie?

Wer zur Heiterkeit neigt, muss die Melancholie in Kauf nehmen.

Hat einen das Leben als DDR-Bohemien melancholisch gemacht oder wurde man Bohemien, weil man eh schon melancholisch war?

Die Boheme in den Sechziger- und Siebzigerjahren war nicht melancholisch, eher ironisch, witzig, albern auch. Traurig und wütend, wenn es wieder mal irgendwelche irrwitzigen Politbürobeschlüsse gab. Wenn Biermann ausgebürgert wurde. Wenn ein Theaterstück aus ideologischen Gründen abgesetzt wurde. Die Melancholie kam mit Macht, als das Land in den Siebzigern immer mehr erstarrte, als die Ernüchterung die Hoffnung auffraß. In den Achtzigern dann war sie der bestimmende Seelenzustand. Die jungen Dichter, die im 1900 mit misstrauisch verschlossenen Gesichtern am Spiegeltresen standen, durften kaum was veröffentlichen, sie hatten nie einen Aufbruch erlebt wie meine Generation in den Sechzigern, nur Stillstand und Ausschluss. Die Melancholie wurde unter Künstlern und Intellektuellen als Widerspruch zum verordneten Optimismus zelebriert, aber auch bewusst als Lifestyle inszeniert, als ästhetische Kategorie. Man muss sich nur mal die Fotos von Sibylle Bergemann ansehen.

Die Fotografin Sibylle Bergemann, die sehr viel in der in der DDR kultisch verehrten Modezeitschrift Sibylle veröffentlichte, war eine gute Freundin von Ihnen und später Mitgründerin der Fotoagentur Ostkreuz.

Auf den Fotos von Sibylle Bergemann lachten die Models nicht, sie trugen Zweifel in ihren schönen Gesichtern, Zweifel war Opposition.

„Die Boheme hat gelebt, so leicht und gut und frei, wie es eben ging. Oder so melancholisch und galgenhumorig, wie die Umstände es provozierten“

Ein weiteres immer wiederkehrendes Motiv Ihres Buches: dass man ein Gegengewicht schaffen wollte zur Spießigkeit und dem schlechten Geschmack der SED-Funktionäre. War es wirklich so einfach? War es gar keine politische Frage, sondern eine der Ästhetik?

Die ästhetische Frage wurde automatisch zur politischen. Es stimmt zwar, dass dieses Land ziemlich unpolitisch war und dass auch in der Boheme wenig über Politik gesprochen wurde, weil diese Art von Politik einfach uninteressant war. Aber einen Komponisten interessierte es, wenn seine Oper nicht aufgeführt werden durfte, einen Schriftsteller, wenn sein Buch nicht veröffentlicht wurde, einen Fotografen, wenn seine Fotos nicht gedruckt wurden, dann war das ein Politikum. Die ästhetische Frage und die politische gehören für Künstler immer zusammen.

Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller sagt in Ihrem Buch: „Die meisten waren Männer. Ostmänner. Feministen waren das keene.“ Fehlte der Ost-Boheme ein entwickeltes feministisches Bewusstsein – trotz oder gerade wegen der offiziell vollzogenen Gleichberechtigung in der DDR?

Die Frauen hatten ein entwickeltes Bewusstsein für die Lücken der Gleichberechtigung, die Männer nicht, sie brachten die Mülleimer runter und kauften die schweren Sachen ein, das war’s. Sie wurden ein bisschen behandelt wie schwererziehbare, aber entwicklungsfähige Kinder, streng und zärtlich.

Gab es einen typischen Ost-Boheme-Machismo?

Nein, eigentlich nicht. Die Doppelbelastung Kinder und Beruf war ein Spagat, das schon, doch habe ich mich niemals diskriminiert gefühlt. In der Boheme hat es immer mehr Männer als Frauen gegeben, schon, weil Frauen nicht so viel Alkohol vertragen und nicht so bedeutungssüchtig sind wie Männer.

Kann man sich heute noch vorstellen, wie viel damals gesoffen wurde?

In der Boheme wurde immer viel und auch zu viel getrunken, nicht nur in der DDR, das liegt im Wesen des Bohemiens. Denn er befindet sich die meiste Zeit seines Lebens in der Schwebe zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Bei Wein oder Schnaps vergisst er seine Zweifel.

Alkohol gab es seltsamerweise ja auch immer ausreichend in der Mangelwirtschaft.

Die Regale mit geistigen Getränken waren immer prall gefüllt. Der Mensch braucht den kleinen Rausch, sonst fängt er an zu revoltieren.

Heute scheint der Mensch vor allem eine Eigentumswohnung zu brauchen, vor allem hier im Prenzlauer Berg, wo die Boheme-Dichte einst besonders hoch war. Die Makler verkaufen den Quadratmeter für mehr als 6.000 Euro. Wohnen Sie noch zur Miete?

Aber ja. Ich mag die Gegend immer noch, ich werde nie von hier weggehen. Ich bin mit dem Prenzlauer Berg verwandt, ich habe mein Leben lang hier gelebt. Zu den Leuten, die jetzt hier wohnen, sind die Kontakte eher flüchtig. Meine wahren Mitbürger sind die Altbauten, ob saniert oder unsaniert, sie sind fast so was wie Familienangehörige, die man niemals verlassen möchte. Ich halte es hier aus, was mir nicht gefällt, blende ich aus.

Halten Sie es auch aus, wenn jemand „Prenzlberg“ sagt?

Jutta Voigt über Klischees:

Im Westen interessiert niemanden, dass im Osten nicht alles grau, alles gleich, alles Gänsemarsch war. Mir ging es immer um die Zwischentöne, die es schwer haben, sich gegen die Paukenschläge der Klischees durchzusetzen

Höre ich nicht mehr. Habe ich mich dran gewöhnt. Diese Verniedlichung drückte ja mal aus: „Den hab ich mir geschnappt, das ist jetzt meiner, dieser süße kleine Prenzlberg.“ Irrtum! Ist meiner!

Aber Sie haben nie über eine Eigentumswohnung nachgedacht?

Nein. In der DDR hat man immer alles ausgegeben, was man hatte, eine Gewohnheit, die weitgehend geblieben ist. Geld braucht man nur, wenn man Angst hat.

Haben Sie heute Angst?

Ich könnte Angst haben.

Na, dann lassen Sie uns lieber gemeinsam in die Zukunft schauen: In 20 Jahren leben Sie immer noch glücklich im Prenzlauer Berg. Wie sieht Ihr Viertel dann aus?

Ich probiere es mal: Das 1900 heißt dann „Tofustation“ und ist als einziges Restaurant der Gegend bis 21 Uhr am Abend geöffnet, im Sommer darf draußen ab 20 Uhr nur noch geflüstert werden, denn „unsere Nachbarn gehen gerne früh schlafen“. Von den vielen Bars der Nachwende-Blüte existiert nur noch „Anna Blume“, alle anderen sind zu Cateringausgabestellen ökonomisiert worden.

Und was ist aus den Bewohnern geworden?

Jonathan, Orpheus, Ava und Elisa sind aus dem Haus, sie studieren jetzt auf einer Eliteuniversität in Bulgarien. Die Mamas und Papas der Gegend haben traurige Augen, sie vermissen die Muttitreffs, die Laternenumzüge, die Hatz auf die Gymnasien, die Elternabende. Sie reiben sich die Augen: Hier ist ja nichts los, sagen sie, das ist ja wie im Nachtjackenviertel von Braunschweig. Als wir vor 25 Jahren ankamen, sagen sie, war alles so schön wild hier, man konnte noch sehen, dass hier mal Bohemiens gehaust hatten, wo sind die bloß alle geblieben?