An die 1.000 Schafe besitzt Knut Kucznik, er ist einer der letzten Wanderschäfer der Region. Hier baut sein Angestellter Rico Förster den Elektrozaun ab

Mister Eigensinn

Mäh Laut Weihnachtsgeschichte waren die Hirten die Ersten, die den heiligen Geist hörten. Auch 2016 Jahre später sind die letzten Schäfer dieses Landes ein ziemlich spezieller Schlag: „Ich bin ein Autonomer“, sagt Schäfer Knut Kucznik aus Altlandsberg von sich

Von Susanne Messmer
(Text) und Piero Chiussi (Fotos)

Der Feldweg hinter den letzten Häusern der kleinen Stadt Altlandsberg bei Berlin ist das reinste Schlammbad. Die ganze Nacht hat es geregnet. So soll es auch den ganzen Tag weitergehen. Dazu ist es windig und fünf Grad kalt. Gleich hinter der Schranke rennt ein nasser Hund an einer Laufleine auf und ab.

Ein stattlicher Mann in derben Kleidern – Dreitagebart, goldener Ohrring, verwegenes Grinsen – schaut pünktlich um 9 Uhr durchs Autofenster hinein und lacht. „Herrlich matschig heute, wa?“, begrüßt er mich und den Fotografen und lässt gleich keine Zweifel aufkommen. Wäre es irgendwie möglich, dem Wetter in den Hintern zu treten, Knut Kucznik, der Schäfermeister, würde das tun. Denn Knut Kucznik wird heute mit seinen Schafen ziehen. Und wenn Knut Kucznik mit seinen Schafen ziehen will, dann hat ihn noch wenig daran gehindert.

Neben Kuczniks Wohnhaus stehen Rundbogenzelte, in denen der Schäfer Technik aufbewahrt, ein bisschen Heu und Kraftfutter. Seine Herde aber steht wie immer ein paar Kilometer entfernt. An die 1.000 Schafe besitzt Kucznik. Und weil der Schäfer findet, dass „Schafe Wind unterm Bauch“ brauchen, ist er mit seinen 50 Jahren nicht nur einer der jüngsten und der letzten selbstständigen Schäfer, die noch einigermaßen von ihrer Arbeit leben können – er ist auch einer der letzten Wanderschäfer der Region.

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen (…) Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist. (Lukas, Kapitel 2)

Knut Kucznik schläft nicht mehr bei den Schafen wie die Schäfer seit Jahrtausenden. So, wie man es sich vielleicht vorstellen mag an Weihnachten. So, wie man sich in Zeiten schlechter Nachrichten gern romantische Geschichten von Ausstieg und Weltflucht erzählt.

Kucznik trägt ein Headphone bei der Arbeit, ein Angestellter fährt immer mit dem Auto hinterher, falls was passiert.

Und trotzdem: Wenn die Schafe rund um Altlandsberg alles abgegrast haben, geht er mit ihnen los. Dann fährt er morgens zu den Schafen, baut den kniehohen Elektrozaun ab, zieht mit ihnen übers Land, bis es dunkel wird, baut den Zaun wieder auf, lässt die Schafe mit den Herdenschutzhunden allein und fährt nach Hause. Ein halbes Jahr lang macht er das, vom Herbst bis zum März, wenn die Lämmer kommen.

Und zwar nicht, weil Knut Kucznik das tun müsste. Es gibt auch andere Schäfer, die ihre Schafe längst halten wie Kühe, in Ställen und auf festen Koppeln. Knut Kucznik zieht mit den Schafen, weil es Tradition ist. „So wollen wir leben, so wollen wir produzieren“, sagt er.

Doch bevor es heute zur Sache geht, muss der Schäfer die Strecke, die er ziehen wird, abfahren. Das machte er eigentlich immer so, denn irgendwo kann jederzeit ein umgefallener Baum liegen, der gefährlich werden könnte für die Schafe. Heute ist das sogar noch wichtiger als sonst, erklärt der Schäfer, während er den Feldweg hinter sich lässt und auf die Straße biegt.

Der Grund: „Ich werde heute knallhart Straße ziehen.“ Das heißt: Es darf keine Baustellen geben. Und warum nicht über die Wiese? Die Pflanzen der Bauern, die bei trockenem Wetter vom Verbiss der Schafe profitieren, besser wachsen und mit weniger Pilzbefall zu kämpfen haben, werden bei Dauerregen in den Sumpf getreten. „Ein guter Schäfer macht das nicht“, sagt er. „Und außerdem“, fügt er an, „wenn bei dem Matsch 500 Schafe über so ein Feld laufen, bleiben die letzten stecken.“

Es gibt dem Statistischen Bundesamt Wiesbaden zufolge immer weniger Schafe. Lebten in Brandenburg im Jahr 2000 noch rund 170.000 Tiere, waren es 2015 nur noch 75.000. Auch deutschlandweit ist die Zahl von 2,7 auf 1,6 Millionen Tiere gesunken.

Gleichzeitig schließen immer mehr Betriebe mit Schafhaltung. Gab es in Brandenburg 2001 noch 700 von ihnen, waren es dieses Jahr nur noch 300. In ganz Deutschland sind von einst 33.000 Betrieben nur noch 9.700 übrig.

Die Preise für 100 Kilogramm Lammfleisch sind dagegen laut Günther Czerkus, Vorsitzender des Bundesverbandes der Berufsschäfer, gestiegen:Zwischen 2004 und 2015 von 370 Euro auf 540 Euro.

Wer trotzdem noch Schäfer werden will, macht eine dreijährige Ausbildung zum „Tierwirt Fachrichtung Schafhaltung“. Dafür braucht man in der Regel, so Czerkus, mindestens einen Hauptschulabschluss. Während der Ausbildung wird Wissen über die Pflege und Haltung von Schafen vermittelt, sowohl in der Praxis auch in der Berufsschule. (les)

Schafe aus dem Dreck ziehen: Nicht auszudenken bei einer Strecke von fast 25 Kilometern bis ins Dorf Hirschfelde, die sich Kucznik heute vorgenommen hat: bis zum Feld eines Bauern, der die Winterbegrünung für ihn hat stehen lassen. Laut Google Maps könnte man den Weg ohne Schafe in fünf Stunden schaffen – nur dass Google Maps nicht damit rechnet, dass Schafe hinter einem her sind, dass sie hin und wieder ausbüxen oder eine Pause brauchen.

Es geht über Stock und Stein, über Waldwege, voll mit faulem Laub und so glitschig wie Blitzeis. „Mit einem normalen Auto wäre jetzt hier Feierabend“, sagt er. „Ekliger Mist!“ Es geht an einem Tierheim vorbei, Kucznik hat vergessen, die Besitzerin zu informieren, dass er heute kommt – „egal“. Nach Herzfelde geht es endlich zurück auf den Hof. Zwei der zehn altdeutschen Hütehunde, die Kucznik hat, werden eingesammelt, Kurt und Tigger. Der Schäfer schnappt sich seinen Stock, zieht sich Regenhose und Pelerine über, legt die Umhängeleine für die beiden Hunde an – und es geht zu den Schafen.

Wie schmutzige Flecken

Von Weitem wirken die 600 Schafe, die er später mit weiteren 300 auf einer anderen Koppel zusammenführen wird, wie schmutzige graubraune Flecken auf schmutzigem graugrünen Grund. Kaum, dass sich Knut Kucznik aus seinem Wagen schwingt, laufen die Schafe ganz freiwillig zum engen Knäuel zusammen. Zwei der zwanzig Herdenschutzhunde, die der Schäfer auch noch hält, um sie nachts zu bewachen, werden in den Hänger geladen, der am Auto des Angestellten hängt. Kucznik hebt seinen Stock und der Zug setzt sich in Bewegung.

Groß sind die deutschen schwarzköpfigen Fleischschafe, wie sie heißen, und für die Kucznik kürzlich die goldenen Zuchtmedaille bekommen hat. Groß sind auch die 50 Ziegen, die er mitlaufen lässt, einfach, weil er sie mag – und als Ammen für die dritten Lämmer, die das Mutterschaf nicht säugen kann.

Die Schafe zockeln leise vor sich hin, man hört nichts als ihr Atmen und das Krächzen eines Kolkraben auf einer hohen Pappel. „Die Schafe blöken nur, wenn ihnen was fehlt“, sagt Kuczink, der mit großen Schritten vorangeht. Es hat beinahe etwas Erhabenes, mit ihm vor 600 Schafen herzulaufen. Aber wie ist er eigentlich aufs Schaf gekommen?

„Ich bin Jahrgang 1966, ein Kind der DDR“, sagt er und erzählt, wie er als Kind immer alles kaputt machen wollte. „Irgendwann im Staatsbürgerunterricht durfte ich keine Fragen mehr stellen.“ Seinen Eltern, ein Fleischer und eine Bauingenieurin, ist er bis heute dankbar für die Geduld, die sie mit ihm hatten. „Ich wollte immer frei sein, mit dem System nichts zu tun haben. Das war allerdings total schwer, weil es immer irgendwelche Regeln gab.“ Und dann zog eines Tages ein Schäfer durch das Dorf, in dem Kucznik groß geworden ist. Dieser Schäfer kam ihm so eigensinnig vor, wild und wunderbar.

Wäre Knut Kucznik zur Wendezeit in Berlin gewesen, er wäre vielleicht ein Punk, ein Hausbesetzer geworden. Wer weiß, wer ihn damals vorm Absturz gerettet hätte. Aber Knut Kucznik war nicht in der Stadt. Deshalb haben ihn die Schafe gerettet. Weil er sich um sie kümmern musste. Ein guter Schäfer sein. „Jeden Tag, egal wie.“

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“. (Psalm 23)

Knut Kucznik zieht mit den Schafen, weil es Tradition ist. Denn „so wollen wir leben. So wollen wir produzieren“

Knutz Kucznik sagt: „Der Schäfer ist ganz allein. Er muss ganz allein seine Entscheidungen treffen, draußen auf dem Acker.“ Grinsend fügt er an: „Ich bin ein Autonomer. Denn wir haben autonom erfunden.“ Doch dann bricht er ab.

Der Hirte Abel wurde aus Eifersucht von seinem Bruder Kain erschlagen. Gott mochte das Opfer des Schafhirten Abel mehr als das des Ackermanns Kain. Der Hirte David konnte den Riesen Goliath besiegen, weil er zuvor die Schafe gegen Bär und Löwe verteidigt hatte. Auch Abraham, Isaak, Jakob und Moses waren Hirten.

Die Schafe müssen jetzt auf die Straße. Kucznik muss sie stoppen, bis kein Auto mehr kommt, sie über einen Graben und an einer Leitplanke vorbei dirigieren. Jetzt blöken sie zum ersten Mal. Der Schäfer geht rückwärts, mit konzentrierter Mine und erhobenem Stock, pfeift und ruft, schickt einen der Hunde los. „Steh, Tigger, steh.“

Doch gilt nicht nur in der christlichen Tradition der Hirte als Symbol für die Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit. Auch Mohammed soll Lämmer gehütet haben, als er noch von seiner Amme betreut wurde. Und selbst in China, wo die Menschen früher sesshaft wurden als anderswo, trat kürzlich ein erfolgreicher Roman über einen Schafhirten eine Diskussion um mehr Naturverbundenheit los.

Sofort geht es weiter auf der Straße, man hört wieder nur sanftes Trappeln und das Klicken des Stocks, mit dem Kucznik geht. Allmählich stauen sich die Autos hinter der Herde, aber keiner der Fahrer drängelt oder hupt. Es geht durch Altlandsberg, ein zehnjähriger Junge reißt ein Fenster auf und ruft: „Oh, wie cool!“ Die Anspannung des Schäfers weicht.

Es gibt ein amerikanisches Managementbuch mit dem Titel „Das Hirtenprinzip“. Die Autoren setzen sich für einen autoritären Führungsstil ein, der Loyalität und Vertrauen erzeugt. In Amerika wurden schon gleich nach Erscheinen 2004 über 2 Millionen Mal verkauft.

Der Mensch als blödes Schaf, das der Führung bedarf? „Na ja“, sagt Kucznik und grinst besonders frech. „Ich bringe ihre Kinder zum Schlachter.“

Die Schäferei ist ein Knochenjob, nicht nur bei schlechtem Wetter. Aber Knut Kucznik und seine Schafe trotzen jedem Wind

Wir laufen und laufen, die nasse Kälte an diesem Tag kann keinem was, der auf diese Art in Bewegung bleibt. Aber nicht nur deshalb ist Schäferei ein Knochenjob.

Kucznik erzählt, wie begehrt die Wolle noch im 18. Jahrhundert war, weil sie für die Uniformen der Soldaten gebraucht wurde. Heute kann er vom Erlös aus seiner Wolle gerade einmal die Schafscherer bezahlen. Auch vom Fleisch, das er verkauft, könnte er nicht leben. 40 bis 50 Euro macht er Gewinn pro Lamm, das übrigens bei ihm ein paar Monate alt wird und 60 Kilo schwer, während ausgewachsene Schafe 130 Kilo auf die Waage bringen.

Ohne das Landschaftspflegegeld, das er von Land, Bund und Europa bekommt und das heute rund 60 Prozent seiner Einnahmen ausmacht, könnte er kaum überleben. Mit der Wolle und dem Fleisch aus dem Schafparadies Neuseeland kann in Deutschland kein Schäfer konkurrieren.

Landschaftspflegegeld? Knut Kucznik spricht nun auch als Vorsitzender der Schafzuchtverbands Berlin-Brandenburg, der er „nebenbei“ auch noch ist. „Ich pflege mit meinen Schafen 110 Hektar Niedermoorfläche und 60 Hektar Trockenrasen im Naturschutzgebiet“, sagt er. Viele dieser Wiesen fielen wegen niedriger Erträge schon Mitte des 20. Jahrhunderts brach. Nun sorgen Kuczniks Schafe dafür, das die Grasnarbe verdichtet und gedüngt wird. So bindet die Wiese das CO2 und filtert das Grundwasser besser.

Artenvielfalt durch Schafe

Es geht weiter, weiter … Kucznik spricht über die Feldwege, über die er nicht mehr ziehen kann, weil die Landwirte sie umpflügen. Er spricht von Haubenlerchen und Neuntötern, Knabenkraut und Augentrost, Artenvielfalt wegen, nicht trotz der Schafe. Kurzes Gras kann nicht brennen. In Südeuropa gibt es auch deshalb immer mehr Waldbrände, weil es immer weniger Schäfer gibt. An der Nordsee sichern die Schafe die Dämme, in den Bergen verringern sie die Lawinengefahr. Kuzcnik, der Mann mit der Bodenhaftung, gerät direkt ins Schwärmen.

Mit Headphone: Knut Kucznik

Doch allmählich geht es auf Mittag zu, die Schafe brauchen eine Pause und er auch. Er zieht die Schafe von der Straße, auf ein Stück Feldgras. „Gehört uns nicht, ist uns aber egal“, sagt er. „Wir sind Schäfer. Die weite Welt ist unser Feld.“

Der Regen lässt nach, der schwere Betonhimmel reißt endlich auf. Produziert Schäfermeister Knut Kucznik eigentlich bio? „Bio wäre für mich ein Gefängnis“, sagt er. Er könnte nicht mehr frei ziehen. Bei ihm fängt bio viel weiter vorn an. Heute wollen in Deutschland alle nur noch edel: Lammkeule und Lammkotelett. Keiner kann mehr Gulasch, Haxe, Kuddeln oder Rollbraten kochen. Deshalb gehen die Reste in die Entwicklungsländer, die Strukturen vor Ort gehen kaputt, erklärt der Schäfer. Bio, sagt er, ist für ihn mehr als ein Siegel. Knut Kucznik ist der Eigensinnige, der Autonome, der nur deshalb nicht als Aussteiger gelten kann, weil er nie irgendwo eingestiegen ist.

Weiter, weiter, weiter. So langsam läuft man sich ein wenig ein, so langsam versiegen die Themen, ohne dass es peinlich wäre, so langsam kommt man ganz bei den Schafen an, beim weiten Himmel, bei der riesigen Wiese. Nicht, dass hier Platz für Romantik wäre, weiter hinten drängelt tatsächlich zum ersten mal ein Auto. Aber gibt es das vielleicht doch, das sogenannte Wandergen?

„Sesshaftigkeit“, schrieb Hans Magnus Enzensberger, „gehört nicht zu den genetisch fixierten Eigenschaften unserer Art … Unsere primäre Existenz ist die von Jägern, Sammlern und Hirten.“ Menschen wandern 100.000 Jahre, erst vor 10.000 Jahren ließen sie sich als Bauern nieder. Autor Bruce Chatwin dachte, dass Nomaden „der Angelpunkt der Geschichte“ sind, und sei es auch nur, „weil alle großen monotheistischen Religionen aus dem Hirtenmilieu hervorgegangen sind.“

Da ist sie also wieder, die Religion. Etwa auf halber Strecke bleibt Knut Kucznik einmal stehen, ruft „Komm, Tigger, komm!“, und dann sagt er drei der stärksten Sätze auf unserer kleinen Reise. Wenn auch mit einem winzigen Augenzwinkern. „Die ganze Welt konnte nicht mehr teilen. Niemand hatte mehr ein warmes Zimmer für eine schwangere Frau. Und dann kamen wir.“