piwik no script img

Fremd im eigenen Land

Aslı Erdoğan Studium und Arbeit im Ausland, Reisen durch die Welt: Wie sich ihr Blick auf die türkische Heimat schärfte

BERLIN taz | „Das einzig Optimistische, was ich zum Migrantenleben sagen könnte: Ich kenne keine andere Erfahrung, die dem Menschen das Leben so gut begreiflich macht.“

Was Aslı Erdoğan in ihrem 2008 erschienenen Roman „Der wundersame Mandarin“ über ihre Genfer Jahre schreibt, würde sie heute, acht Jahre später, vielleicht um eine weitere Erfahrung ergänzen. 133 Tage lang hat die türkische Schriftstellerin dort gesessen, wo sich derzeit das intellektuelle Leben der Türkei abspielt: im Gefängnis. Auch sie wurde im Zuge der Säuberungswelle in Medien- und Akademikerkreisen nach dem im Juli gescheiterten Putschversuch verhaftet.

1967 in Istanbul geboren, wuchs Erdoğan in einem bürgerlichen Haushalt auf, in dem Bildung großgeschrieben wurde. Sie besuchte eine englischsprachige Privatschule, studierte Informatik und Physik an der renommierten Bosporus-Universität und arbeitete für zwei Jahre am Genfer Kernforschungsinstitut Cern. Im Anschluss zog es die Physikerin nach Rio, wo sie ihre Promotion schmiss, um sich vollständig ihrer Leidenschaft, dem literarischen Schreiben, zu widmen.

Erdoğans Erzählungen drehen sich weitgehend um die klassischen Themen der Literatur: Einsamkeit, Sexualität, Macht. Das Schreiben auf Reisen schärfte jedoch auch den Blick auf die Türkei: Wo immer Erdoğan sich gerade befand, das Fremde setzte sie immer in Verbindung zu ihren Wurzeln.

Zurück in der Heimat, wo sie sich mit ihrer langjährigen Kolumne in der linken Zeitung Radikal einen Namen als Journalistin für Menschenrechtsthemen gemacht hatte, begann sie sich mit jenen zu beschäftigen, die sich fremd im eigenen Land fühlten: den KurdInnen, die seit Jahrzehnten aufgrund von Nationalismus, Kriegen und Terror immer wieder zu Umsiedlung und kulturellen wie sprachlichen Assimilation gezwungen wurden. Als PEN-Mitglied gründete Aslı Erdoğan das Kunst- und Literaturforum von Diyarbakır mit, wo sie regelmäßig Workshops, Seminare und Vorlesungen hielt.

Zuletzt schrieb sie eine Kolumne für die inzwischen verbotene Zeitung Özgür Gündem, die ihr zum Verhängnis wurde. Sie sollte als Beweis für ihre Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation gelten. Vor Gericht verteidigte sich Erdoğan mit den Worten: „Ich bin eine Schriftstellerin. Mein Existenzgrund ist das Erzählen.“

Fatma Aydemir

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen