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Ein Comic trifft den Nerv der Zeit

Lügen Den weltweit beliebten norddeutschen Mythos vom Baron Münchhausen haben Flix und Bernd Kissel in eine Grafic Novel transponiert. Die ist bieder gezeichnet und lässt den akademisch versierten Leser schmunzeln – trotz oder vielleicht sogar wegen ihres versehentlichen Nationalismus

von Benno Schirrmeister

Wenn ein Comic über Münchhausen erscheint, ist das auch dann noch eine norddeutsche Angelegenheit, wenn der Zeichner aus dem Saarland und der Szenarist aus Westfalen stammt – einfach wegen der Hauptfigur. Denn norddeutsche Legenden mag es ja so einige geben, von Störtebecker bis Eulenspiegel und zurück. Aber Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen ist als Archetyp des Mythomanen weltweit rezipiert worden. Ein echter Mythos, der – nicht anders als Narziss, Don Juan oder Dracula – nur die regionale Herkunft mit dem realen Menschen teilt, der mittels erzählerisch-künstlerischer Verarbeitung zur ewigen Figur geworden ist. Der Baron Münchhausen aber ist 1720 in Bodenwerder im Weserbergland geboren worden, und dort ist er auch 1797 gestorben.

Er veranstaltete, das ist gesichert, Jagdgesellschaften – und unterhielt seine Gäste abends gern durch blumige Erzählungen aus seiner Militärkarriere. Die hatte ihn von Sibirien bis ans Schwarze Meer und durchs Baltikum geführt. Und in deren Verlauf hat er mehr als einmal auch die Seiten gewechselt.

Was diesem Münchhausen passiert ist, müsste man eigentlich als Rufmord bezeichnen. Noch zu Lebzeiten erlangt er globale Popularität, aber eben als bis Pinocchio konkurrenzloser Inbegriff des Lügners. Alle aber, die sich zu seinen Lebzeiten noch schriftstellerisch daran beteiligt haben, waren zwischen Oldenburg und Rostock, zwischen Göttingen und Altona unterwegs, also zwischen Schweden, Braunschweig, Dänemark und dem Oldenburgischen – Hannover nicht zu vergessen: Die ersten Münchhausen Stories hat 1761 vermutlich Rochus Friedrich zu Lynar publiziert, der damalige Präsident der Regierung des Herzogtums Holstein.

Rudolf Erich Raspe, Bibliothekar, Archivar und Dieb, der mutmaßlich bei Münchhausen zu Gast gewesen war, hat sie aufgegriffen, nachdem er aus Hannover hatte nach England fliehen müssen: In London hat er die Figur literarisch gestaltet, um die Geschichten in ein 1786 erschienenes Broschürchen und das wiederum in klingende Münze zu verwandeln.

Aus dem Englischen dann schon im selben Jahr sehr frei ins Deutsche rückübersetzt und auf seine Weise weitergedichtet – aber auch entpolitisiert – hat Raspes satirische Erzählungen dann Gottfried August Bürger, der Wahlgöttinger. Und weil sie mit dessen Namen auf eine Weise spielen können, wie sie ihrem Humor angemessen ist, beschränken sich Flix und Kissel in ihrer Adaption darauf, auf den Leonore-Dichter anzuspielen: Bei einer Musterung soll der Lügenbaron seinen Namen sagen, er hat Gründe ihn zu verschweigen – also wird er vom Fähnrich angeraunzt: „Sie sind doch ein Bürger! Sie müssen doch einen Namen haben.“ Woraufhin er ins Stottern gerät: „Äh… Ein Bürger?“ – Und schon ist die Sache geritzt für den Spieß. So funktioniert der Flix-Humor, und der ist so aufregend und prickelnd wie das FAZ-Feuilleton. Das gilt auch für Kissels Zeichnungen und Layouts: Alles technisch einwandfrei in einem niemals aggressiven Funny-Stil, den aber – das fördert die Seriosität – in distinguiertem Schwarz-Weiß gehalten.

Nur die Episoden auf dem Mond, deren Landschaftsgestaltung stark an Peyo orientiert wirkt, werden poppig bunt gemacht: Sie dient in dieser sich am psychoanalytischen Kurs freudig bedienenden Münchhausen-Fassung als Ort jenseits des Imaginären, als das Reale – oder der Tod. Über so deutlich erkennbare Bezugnahmen freut sich der akademisch-versierte Leser natürlich. Sie geben ihm Halt, ähnlich wie die nur selten variierten Waffeleisen-Layouts, und sie lassen ihn schmunzeln.

Episodisch ist der Charakter der ursprünglichen Erzählungen: Weder zu Lynar noch Raspe noch Bürger haben es für nötig gehalten, den Geschichten eine stringente Ordnung zu verleihen. Allenfalls skizzenhaft scheint bei ihnen eine Rahmenhandlung auf, ein legitimatorischer Erzählvorwand fehlt: Das hat die Streuung und Wiederaufnahme begünstigt, sodass russische, französische und auch türkische Varianten der norddeutschen Erzählungen existieren.

Der Mythos bleibt regional verankert – macht aber an keiner Grenze halt. Andererseits variieren auch die einzelnen Anekdoten stark. So ist die in Deutschland vielleicht populärste vom Ritt auf der Kanonenkugel im anglophonen Sprachraum unbekannt. Umgekehrt hat Bürger nicht mitbekommen, wie der Baron die Bibliothek von Alexandria entdeckt und an der französischen Revolution teilnimmt. Gemeinsam haben die beiden Bände aber, die auf ihre Weise Originale sind, dass der Erzähler atemlos durch die Geschichten rauscht, minimalistisch, ohne Schnörkel – allein aus der großen Lust am Fabulieren heraus.

Zum Schluss knallen die britischen Agenten den Boten der Fantasie einfach ab

Die scheint Flix und Kissel dann doch zu suspekt, zu unbehaglich, zu pervers: Zwar fragmentiert ihre Grafic-Novel die Erzählungen noch weiter als ihre historische Vorlage, sogar oft – bei der Legende von der zweigeteilten Stute etwa – bis aufs bloße Motiv, und unter Löschung der Pointen. Zugleich aber versucht sie alles in eine große, möglichst bildungsbürgerliche Gesamtstruktur einzubinden: Dafür deuten sie die Geschichten in Deckerinnerungen um. Zudem transponieren sie die Handlung ins Jahr 1939 und – allerdings ganz ohne die von Raspe begonnene Münchhausen-Tradition auch nur zur Kenntnis zu nehmen – nach London, das sie sich falsch und grundlos, ein Jahr vor dem Comic „The Blitz“, als von Flaks und Sandsäcken dominierte Stadt im Alarmzustand ausmalen.

Auf dem Dach des Buckingham-Palast wird Münchhausen nach eigenen Angaben vom Mond gestürzt, vom Geheimdienst aufgegriffen: Ein Deutscher mit Rokoko-Perücke, ein Verwirrter oder ein Spion, den der MI 5 nun, weil Folter und Verhöre unergiebig bleiben, von Sigmund Freud befragen lässt: Dem scheint dabei wichtig, stets die nationale Distanz zu wahren: „Eure Majestät ist nicht meine Majestät“, stellt er gleich eingangs klar.

Zum Schluss knallen die bösen britischen Agenten den Boten deutscher Fantasie und des deutschen Geistes einfach ab. Ohne Richter und ohne Urteil – während Freud, vor sich das Manuskript mit den Geschichten des Barons, an seinem Schreibtisch stirbt. Sehr schön hat Kissel die gleichmäßige, drängende Handschrift des Vaters der Psychoanalyse nachempfunden.

Indem sie so den vor aufklärerischer Lust und Erzählvergnügen schier berstenden Welttext in eine zielstrebige nationalistische Erzählung verwandeln, treffen Flix und Kissel offenbar den Nerv der Zeit: Als besonders fantasievoll hat die Jury des Rudloph Dirks Award genau diese Transposition bestimmt – und das Buch zum besten deutschen Comic des Jahres gekürt, immerhin nicht einstimmig. Der offenkundige Revanchismus des Szenarios scheint ihr dabei entgangen zu sein. Und auch bei den Autoren ist klar, dass er allein ihrem Unterbewussten entspringt. Bloß: Besser wird er dadurch nicht.

Flix /Bernd Kissel: Münchhausen. Die Wahrheit übers Lügen, Carlsen 2016, 190 S., 17,99 Euro

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