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Nach der Moral

Dokumentarfilm Eine Menschenwelle schwappt durch diesen Film: „Austerlitz“ von Sergei Loznitsa zeigt KZ-Besucher ohne Kommentar, ist dabei aber alles andere als neutral geschnitten

Die Räume dicken sich mit Menschenmasse ein, dann lichtet sich das Bild wieder: KZ-Besucher in „Austerlitz“ Foto: Déjà-vu

von Lukas Stern

Was gehört sich für den Besucher eines Konzentrationslagers, und was gehört sich nicht? Diese Frage beantworten zu wollen, setzt voraus, dass man sich auf Angemessenheit einigt; und wie müsste die aussehen angesichts der Massenvernichtung durch den Nationalsozialismus? Die Moral steht auf wackeligen Beinen.

Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa hat mitten im Hochsommer in den KZs Sachsenhausen und Dachau an verschiedenen Orten seine Kamera platziert und die Touristenströme gefilmt. Manche Leute haben einen Audioguide am Ohr, ein Mann tastet die Umgebung mit einer Action-Cam ab wie mit einem Metalldetektor. Gleich in der zweiten Einstellung sehen wir einen Teenager, dessen T-Shirt mit dem Schriftzug „Cool Story Bro‘“ geziert ist. Später sehen wir noch einen Mann, dessen Shirt ihn als Jurassic-Park-Fan outet, und ein Mädchen, auf deren Top „Just don’t care“ zu lesen ist. Gehört sich das? Was uns heute schockiert, kann in einhundert Jahren ganz anders sein. Entweder weil sich das historische Bewusstsein wandelte oder auch weil niemand mehr „Jurassic Park“ kennt und so dem Affekt gegen die Verquickung von KZ-Besuch mit Abenteuertourismus keine Lücke mehr gelassen ist.

Loznitsa provoziert diesen Affekt, weiß aber auch, dass dieser selbst schon im Verdacht steht, die Moral auf bloße Pietät zu reduzieren. Ihm geht es weniger um das touristische Ethos und mehr um das dokumentarische.

Obwohl Loznitsa auf den ersten Blick kaum mehr macht, als mit einer unbewegten Kamera einzelne Ausschnitte aus dem Vernichtungsareal herauszulösen, ist sein Film hoch manipulativ. Das beginnt bei der Auswahl der Bilder. Wahrscheinlich sind es am Ende doch die wenigsten, die morgens vor dem Kleiderschrank das Hirnkästchen ausschalten und geschichtsverschusselt zum Lieblingsleibchen greifen. Auch die Art, wie der Film geschnitten ist, macht ihn zu einem fast akrobatischen 90-minütigen Manöver.

Zunehmend dicken sich die Räume mit Menschenmasse ein, dann lichtet sich das Bild wieder, gibt den Blick frei auf die Brutalität der Architektur, bis das nächste Bild mit Touristen bevölkert, übervölkert, entvölkert wird. Eine Menschenwelle schwappt durch diesen Film. In ihr wirkt eine Negativität, denn das Überfluten des Bildes durch Touristenmasse ist zugleich das Verschlucken des historischen Raums. Aber die Welle ist eben auch künstlich, einzig und allein das Produkt der Filmmontage. Loznitsas Dokumentarismus ist alles andere als neutral, der KZ-Tourismus, den er zeigt, ist ein Kunstprodukt.

Gerade deshalb ist „Austerlitz“ so spannend. Es gibt keine vorgefertigte Moral, die wir in diesen Film untermischen könnten wie das Gelbe vom Ei in einen Kuchenteig. Wer das tut, ist Loznitsa auf den Leim gegangen. Nichts wäre uninteressanter und vermessener als ein Film über touristische Taktlosigkeit. Denn wieder müsste man sich dann fragen, was denn der Takt wäre, der angeschlagen gehörte.

Loznitsa kennt dieses Dilemma ganz genau, und sein Film ist gerade deshalb so großartig und vielleicht auch so radikal, weil er dieses Dilemma hervorzieht, weil er in einem gewissen Sinne nach der Moral ist, weil er mit einer gänzlich anderen Moral befasst ist als der, die er an der Oberfläche provoziert. Wenn ein Mann mit laufender Handyaufzeichnung auf Loznitsas Kamera zukommt, dann treffen sich die Blicke zweier Dokumentarfilmer. Es wäre absurd, der einen Kamera durch die andere hindurch den Zeigefinger vorhalten zu wollen.

Worum es geht, ist die Frage nach den Praktiken des Dokumentierens selbst

Permanent sehen wir Leute mit Selfiestab bewaffnet. Sie fotografieren sich am Galgenpfahl, in der Obduktionshalle, vor dem Eingangsgatter. Mehrmals müssen eine Tochter und ihre Eltern das Selbstporträt vor dem „Arbeit macht frei“-Schriftzug wiederholen. Irgendetwas scheint sich ihrem Foto zu widersetzen – eine Schlüsselszene. In ihr wird deutlich, wofür sich „Austerlitz“ eigentlich interessiert. Es geht schon lange nicht mehr um die Unangemessenheit, selbstdarstellerisch im KZ aufzutreten. Worum es geht, ist die Frage nach den Praktiken des Dokumentierens selbst, nach ihren Verheißungen und Widerständen, nach der Arbeit, die sie erfordern, der Perfektion, die sie einfordern, dem Ethos, das sie auffordert.

Tatsächlich scheint dieser Film nach einer Moral zu fragen, deren Antwort vielleicht noch hundert Jahre auf sich warten lässt. Nach welchem Ethos dokumentieren wir heute? Wir sehen die Selfiekünstler und nennen sie unverschämt, in der Zukunft sieht man sie vielleicht nur noch als die gewöhnlichen Dokumentaristen unserer Zeit.

„Austerlitz“ ist ein Geschenk an die Zukunft. Sie wird uns und unser Geschichtsverhältnis an unserem Dokumentarverhalten ablesen und messen. Bis dahin jedenfalls sind die T-Shirt-Träger und Fotoknipser freizusprechen.

Ab heute im Kino. 18. Dezember, 15 Uhr, FSK: Film und Gespräch mit Bert Rebhandl und Ekkehard Knörer

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