Autorin Saphia Azzeddine: Zorn, der auf Privilegien trifft
Bilqiss ist nicht da, um euch zu beruhigen: eine Begegnung mit der marokkanisch-französischen Autorin Saphia Azzeddine.
In Wirklichkeit gibt es keine Happy Ends. Die Realität ist hart und erbarmungslos. Auch für die fiktive Bilqiss sieht es nicht besser aus. Sie ist die titelgebende Figur in dem neuen Roman der marokkanisch-französischen Autorin Saphia Azzeddine, und ihr droht der Tod durch Steinigung.
Ihr Vergehen? Sie persönlich hat die Gläubigen ihres Viertels zum Gebet gerufen, weil der Muezzin nicht aus dem Schlaf zu wecken und aufs Minarett zu holen war. Nach ihrer Verhaftung wurden zudem Make-up, Stöckelschuhe und eine Sammlung persischer Gedichte beschlagnahmt sowie eine Menge weiterer verbotener Kram, der aus der jungen Witwe eine schwere Sünderin machte.
Immerhin, so geht der Roman weiter, wurde sie nicht sofort hingerichtet. Seit einer Woche läuft nun schon ihr Prozess, bei dem sie auf einen Anwalt verzichtet. Bilqiss will sich lieber selbst verteidigen. Keineswegs weil sie glaubt, ihr Leben dank Logik und durchschlagender Argumente aus dem Koran retten zu können – mit ihrem brutalen Ende hat sie sich längst abgefunden: „Ich musste um jeden Preis da gewinnen, wo sie jegliches moralisches Empfinden verloren hatten. Ich musste um jeden Preis zu ihrer Niederlage werden“ – zur Niederlage des Pöbels, der Bärtigen und nicht zuletzt des Richters, der ihr Urteil immer wieder nach hinten schiebt. Die beiden verbindet ein Geheimnis.
Das Land, in dem die Handlung spielt, hat keinen Namen. An einer Stelle im Buch heißt es nur das „Kackland“. „Es ist ein Land, das wegen der Kriege, die dort geführt wurden, zu Scheiße geworden ist“, präzisiert Saphia Azzeddine, die soeben in Berlin und Hamburg ihren nun dritten ins Deutsche übersetzten Roman präsentierte. Das Land, in dem die Steinigung als Todesstrafe praktiziert wird, in dem ein radikaler Islam sich breitmacht und die Präsenz von US-Soldaten als ungerechtfertigt angesehen wird – ja, das könnte der Irak sein oder Afghanistan.
Saphia Azzeddine: „Bilqiss“. Aus dem Französischen von Birgit Leib. Wagenbach, Berlin 2016, 176 Seiten, 20 Euro
In der französischen Presse liest man, dass Saphia Azzeddine die Idee zu „Bilqiss“ nach einer Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 bekam, die das Leben des Opfers forderte und zu Massendemonstrationen führte. Azzeddine widerspricht: „Ich weiß nicht, ob ich das selbst bin, die manchmal Quatsch erzählt, oder doch die Journalisten. Denn eigentlich stelle ich mir nie die Frage, woher denn eine Idee kommt, und ich komme mir blöd vor, wenn sie mir gestellt wird.“
Wut auf das Patriarchat
Vielmehr würde sie die Summe vieler Dinge, die sie sehe oder höre, dazu bewegen, sich an den Computer zu setzen. Wenn das Fass voll ist, könnte man meinen. Ihren einhellig von der Kritik bejubelten Debütroman „Zorngebete“ aus dem Jahr 2008, in dem eine junge Frau im Maghreb im Gebet Allah ihre Wut auf das Patriarchat anvertraut, soll Azzeddine innerhalb von drei Tagen und drei Nächten geschrieben haben. Das Tempo habe sich inzwischen verlangsamt, nicht zuletzt weil sie Mutter zweier Kinder geworden ist.
„Doch wenn es hochkommt, wird das Schreiben zu einem physischen Bedürfnis, wobei ich selbst das Zähneputzen als Zeitverlust empfinde“, erzählt die 1979 in Marokko geborene Autorin, die als Neunjährige mit ihrer Familie nach Frankreich auswanderte. „Ich mache keinen Sport, ich boxe nicht, ich schreibe“ – quasi am Stück. „Ich halte fest, was aus mir kommt.“
Die dritte wichtige Figur des neuen Romans, nach Bilqiss und dem Richter, ist ebenfalls Autorin, beziehungsweise eine angehende Journalistin, die sich beim New York Magazine beweisen will. Auf der Suche nach einem überzeugenden Thema googelt sich Leandra die Finger wund, bis sie auf Videos stößt, die von Bilqiss’ Prozessbegleitern mit dem Handy aufgenommen wurden.
Sharbat Gula
Das Gesicht jener „tragischen Schönheit mit dem durchdringenden Blick“ kommt ihr bekannt vor. Tatsächlich ziert es eine Kaffeetasse, die ihr vor Jahren von ihrer Mutter nach einer Konferenz über häusliche Gewalt geschenkt wurde – „Afghan Girl“ Sharbat Gula lässt grüßen. Für Leandras Chef lohnt sich der Aufwand für die Story nicht, und so entscheidet sich die engagierte Journalistin, auf eigene Kosten über den Fall zu berichten.
Welten trennen beide Figuren. Die arme Waise Bilqiss – immer noch so schön wie auf der Tasse – wurde als Kind mit einem um Jahrzehnte älteren Mann zwangsverheiratet, die Ehe war eine Dauervergewaltigung. Obgleich es ihr verboten ist, liest sie gern und viel, zur Not selbst die Gebrauchsanweisung der Kamera des englischen Fotografen, der ihr Gesicht berühmt machte.
Wenngleich Leandra sich stets gegen das Machogehabe ihrer männlichen Vorgesetzten behaupten muss, so scheint ihr im Vergleich regelrecht die Sonne aus dem Arsch: gut umsorgt, verortet sich die junge Frau selbst im Stereotyp der verwöhnten American Jewish Princess – und benötigt dementsprechend die Hilfe einer Putzfrau, um die Tür ihrer Spülmaschine zu öffnen.
Gewissensfragen und Vorwürfe
Man kann es ruhig sagen: Egal ob Bilqiss, Leandra oder der radikalisierte Richter, auch die whitetrashigen US-Soldaten und die vielen anonymen Spanner des menschlichen Elends, ihre Figuren hat Azzeddine allesamt mit der Axt gezeichnet. In einer Welt voller Karikaturen – von Trump über Reichsbürger bis hin zu IS – wirken ihre Charaktere daher umso unheimlicher. Folgerichtig wird Leandra, die Bilqiss in ihrer Zelle besuchen darf, von dieser nicht mit offenen Armen empfangen – dem Medienspiel, das sie sowieso nicht aus ihrer verzweifelten Lage retten kann, will sich Bilqiss nicht preisgeben. Statt dessen hagelt es Gewissensfragen und schwere Vorwürfe.
Die Frauen begegnen sich an einem Ort, an dem Differenzierung nichts mehr verloren hat, während Bilqiss’ Hass auf die westliche Selbstversessenheit von Leandra trifft. Die bitterbösen Wortgefechte der beiden sollen Azzeddine zur Verarbeitung ihrer eigenen inneren Widersprüche gedient haben: Sowohl die zornige Bilqiss als auch die privilegierte Leandra seien jeweils ein Teil ihrer selbst, sagt sie. Für den Leser ergibt sich der flaue Eindruck, dass der Raum zur Entfaltung interkultureller Identitäten ausgerechnet im Globalisierungszeitalter allmählich abhanden kommt.
Zwischen Hebdo und Bataclan
„Wenn ich an die Macht komme, töte ich Sie, Leandra“, sagt Bilqiss. Diese Drohung aus der Tiefe ihrer Zelle klingt fast schon prophetisch, wenn man bedenkt, dass Azzeddines Roman in Frankreich im April 2015 erschienen ist, also im Zeitraum zwischen dem Anschlag auf Charlie Hebdo und dem Massaker im Bataclan, als das Land begann, zwischen den Fronten zu zersplittern. „Nach den Attentaten wurde ich zu ein paar Fernsehsendungen eingeladen, um über den Islam zu sprechen“, erinnert sich Saphia Azzeddine.
„Ich bin da aber keine Expertin. Außerdem hätte ich mit dem, was ich zu erzählen habe, alle enttäuscht.“ Die Art des Trauerns war damals bei allen wie gleichgeschaltet, bemängelt sie. „Auch ich habe geweint. Aber ich liebe mein Land lieber jeden Tag ein wenig, wohldosiert, als es wie auf Befehl plötzlich maßlos zu vergöttern und demonstrativ sowohl alle Polizisten und alle Araber zu umarmen. Das ist dann nur Show.“
Und klar, Bilqiss sei nicht dazu da, um uns zu beruhigen. „Ich versuche zu verstehen, woher der Hass kommt, ich entschuldige ihn nicht – und meine Figuren sind nicht da, um geliebt zu werden oder die Menschen mit edlen Absichten hinter sich zu versammeln. Sie sollen stören, uns mit Fragen überhäufen – und nicht zuletzt zum Lachen bringen“.
Egal, wie sehr die Weltlage zum Heulen ist, Bilqiss jedenfalls lässt kein Mitleid zu. Selbst in den verzweifeltsten Situationen überrumpelt sie den Leser mit ihrem legeren Humor. Als einer ihrer schlagfertigen Sprüche dem Richter beinahe einen Lachanfall vor vollem Gerichtssaal abringt, verhängt er ihr 37 Peitschenhiebe. Fast ohnmächtig vor Schmerz durchfährt sie ein noch größerer Schreckgedanke: „Was aber, wenn, was ziemlich wahrscheinlich war, die beiden Schufte, die mich auspeitschten, nicht zählen könnten?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!