Kommentar: Die geraubte Fantasie
Pünktlich zum 1. Advent 1812 veröffentlichten Wilhelm und Jacob Grimm die von ihnen über Jahre gesammelten sogenannten Haus- und Kindermärchen: „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen“, „Rapunzel“. Heute, mehr als 200 Jahre später, droht der magische Charakter dieser Märchen, das Wunderbare in die Welt der Wirklichkeit zu tragen, durch Kommerzialisierung endgültig verloren zu gehen.
In Hollywoodproduktionen erreichen an Märchen angelehnte Charaktere ein Millionenpublikum. Doch die Kommerzialisierung der magischen Geschichten bleibt nicht folgenlos.
Jahrhundertelang lebten Märchen von ihrer mündlichen Überlieferung. Heute ersetzen Kinoproduktionen generationsübergreifende Märchenerzählungen. Dieser ursprüngliche Charakter der Märchen geht nun durch Mainstreamfilme für ganze Generationen verloren. Es entsteht eine verengte, eindimensionale Sichtweise auf Märchen. Fallen Namen bestimmter Märchenfiguren, haben Kinder heute keine Produkte ihrer eigenen Vorstellung mehr vor Augen, sondern von Hollywood vorgegebene Gestalten: Disneys Rapunzel hat große Klimperwimpern und Wespentaille, genau wie die Eiskönigin in „Frozen“ oder auch schon die püppchenhafte Cinderella aus den 90ern. Entgegen der ursprünglichen Intention von Märchenerzählungen regen diese Figuren die Fantasie des Publikums nicht an, sondern schaffen sie ab.
Wie würden die Brüder Grimm zwischen Popcorn und Cola im Kinosessel reagieren? In einer Zeit, in der Disney und Universal die Deutungshoheit über Märchen innehaben, verkommen die Geschichten zu gewöhnlichem Erzählstoff einer kapitalistischen Verwertungslogik. Raphael Piotrowski, Teresa Kampfmann undDavid Gutensohn
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