Es ist angerichtet

Rot-Rot-Grün Sechs Wochen haben die Köche von SPD, Linkspartei und Grünen über die richtigen Rezepte gestritten. Seit Mittwoch steht das Menü – der Koalitionsvertrag. Wem schmeckt es? Wird jemandem übel? Ist es ausreichend gewürzt? Die taz hat vorgekostet

Illustration: Christian Barthold

Klar, der Re­gie­ren­de Bür­ger­meis­ter wird auch wei­ter­hin Micha­el Mül­ler (SPD) hei­ßen. Künftig wird er aber nicht mehr zusätzlich für Kul­tur zu­stän­dig sein, sondern für Wissenschaft und Forschung. Die meisten anderen Personalien sind bekannt, wenn auch noch nicht offiziell bestätigt. Die SPD bekommt vier SenatorInnen, Linke und Grüne je drei.

Kultursenator wird Klaus Lederer, langjähriger Landeschef der Linkspartei. Dass es erstmals seit 2006 ein eigenständiges Kulturressort gibt, liegt daran, dass dieser Senat statt wie bisher aus acht nun aus zehn SenatorInnen bestehen darf und wird.

Die zweite Verwaltung, die deswegen geteilt wird, ist Bauen, Umwelt und Verkehr. Neue Bau- also Stadtentwicklungssenatorin wird Katrin Lompscher (Linke), das Ressort Umwelt und Verkehr geht an die Grünen, die bisher aber noch niemand für das Amt gefunden haben.

Der bisherige Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) wird Innensenator. Auch Dilek Kolat (SPD), bisher Arbeitssenatorin, bekommt ein neues Ressort und kümmert sich fortan um Gesundheit. Im Amt bleiben darf Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD). Die grüne Fraktionschefin Ramona Popwird Senatorin für Wirtschaft und Energie. Wahrscheinlich darf Sandra Scheeres (SPD) Bildungssenatorin bleiben, Elke Breitenbach(Linke) wird voraussichtlich Senatorin für Arbeit, Integration und Soziales, der Grüne Dirk Behrendt Justiz­senator. (taz)

Verhandelt wurde der Koalitionsvertrag von 30 VertreterInnen der SPD, Linkspartei und den Grünen. Damit es zur Zusammenarbeit der drei Parteien kommen kann, müssen die Parteien selbst noch ihre Zustimmung geben.

Bei Grünen und SPD soll dies auf Parteitagen Anfang Dezember geschehen. Die Linkspartei geht noch einen Schritt weiter: Alle Mitglieder dürfen über den Vertrag abstimmen; diese Mitgliederbefragung soll am Montag starten, ein Ergebnis vor dem 8. Dezember vorliegen. Allgemein wird mit hoher Zustimmung bei den drei Parteien gerechnet, zumal schon rein rechnerisch kaum andere Koalitionsmöglichkeiten bestehen.

Am 8. Dezember soll Michael Müller von SPD, Linken und Grünen erneut zum Regierenden Bürgermeister gewählt werden. Rot-Rot-Grün hat 92 Abgeordnete und eine Mehrheit von zwölf Stimmen. CDU, AfD und FDP bilden die Opposition. (taz)

Ein Zeichen in Richtung der Armen

Soziales Die Koalition will die Richtwerte für Hartz-IV-Mieten erhöhen. Einen neuen Beschäftigungssektor für Langzeitarbeitslose gibt es erst einmal nicht

Fast jeder Sechste lebt in Berlin von Hartz IV. Wer, wenn nicht eine rot-rot-grüne Koalition, sollte sich der Menschen annehmen, an denen der wirtschaftliche Aufschwung vorbeigeht? Nun kann ein Land nicht die Hartz-IV-Regelsätze anheben. Deshalb versucht Rot-Rot-Grün, an kleineren Stellschrauben zu drehen: So sollen Schuldnerberatungsstellen und die Wohnungslosenhilfe gestärkt werden, Mobilitätsdienste für Behinderte und Stadtteilmütter will man absichern.

Eines der Lieblingsprojekte der Linken während der rot-roten Regierungszeit bis 2011 war die öffentlich geförderte Beschäftigung Langzeitarbeitsloser. Ein ähnliches Vorhaben wird es mit Rot-Rot-Grün vorerst nicht geben. Für die Finanzierung fehlten derzeit entsprechende Arbeitsmarktprogramme auf Bundesebene, sagt Elke Breitenbach, die für die Linke als Sozialsenatorin gehandelt wird.

Dafür will Rot-Rot-Grün aber die Mietrichtwerte für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger erhöhen. Für einen Singlehaushalt übernimmt das Amt derzeit eine Bruttokaltmiete von 365 Euro, für vier Personen 587 Euro. Ist die Miete höher, müssen die Betreffenden die Differenz aus ihrem Regelsatz bestreiten. Das betrifft immer mehr Menschen: Von 302.000 Haushalten, die von Hartz IV leben, liegen derzeit 126.000 über den Richtwerten, doppelt so viele wie vor drei Jahren. Die Koalition will nun die Berechnungsgrundlage der Richtwerte ändern und dabei nicht mehr nur die einfachen Wohnlagen des Mietspiegels, sondern auch mittlere Wohnlagen berücksichtigen.

Das wäre vielleicht nicht der ganz große sozialpolitische Wurf, aber doch ein wichtiges Zeichen: Die neue Regierung hat einen Sinn für die Bedürfnisse von Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen. Allerdings muss sich erst noch zeigen, ob eine solche Neuregelung auch Bestand hätte: Laut einem Urteil des Bundessozialgerichts von 2010 sollen für die Berechnung der Hartz-IV-Mieten die Verhältnisse des einfachen Wohnungsstandards herangezogen werden. Antje Lang-Lendorff

Symbolwert:hoch

Bla-Bla-Faktor:mittel

Realisierungschance:mittel

Ein Sieg für:wenn, dann für die Linke

Die Rekommunalisierung des Wohnens

Bauen UND Wohnen Was Linke und Grüne in der Opposition gefordert haben, steht nun im Koalitionsvertrag. Bodenspekulation bleibt unangetastet

Man muss nur mal vergleichen: Was Linke und Grüne in den vergangenen Jahr im Bauausschuss gefordert haben, ist nichts mehr für die Papiertonne, es steht nun schwarz auf weiß im Koalitionsvertrag. Wenn alles nun auch umgesetzt wird, kann man schon sagen: Rot-Rot-Grün ist ein Bündnis für die Mieterinnen und Mieter der Stadt, auch für jene mit geringem Geldbeutel.

Zentrale Akteure dafür werden die sechs landeseigenen Gesellschaften. Sie vermieten künftig 60 Prozent ihrer Bestands- und die Hälfte aller Neubauwohnungen an Inhaber eines Wohnberechtigungsscheins (WBS). Die Mieterhöhungen werden begrenzt, von bisher 15 Prozent in vier Jahren auf maximal 8 Prozent. Bei energetischer Sanierung soll die Warmmiete nicht steigen. Bislang konnte man sagen: Degewo und Co gehören dem Land. Macht Rot-Rot-Grün seine Ankündigungen wahr, gehören sie auch den Mieterinnen und Mietern. 400.000 landeseigene Wohnungen strebt Berlin an, das ist der Beginn der Rekommunalisierung beim Wohnen.

Für alle andern gilt: Die Bezirke sollen es richten, etwa durch neue Milieuschutzgebiete, mit denen Luxussanierungen verhindert werden sollen. Oder aber man wartet, bis der Neubau fertig ist. 30.000 Wohnungen sollen die Landeseigenen bauen, davon 30 bis 50 Prozent zu Mieten um 6,50 Euro den Quadratmeter. Aber auch Private können Fördergelder bekommen. Die Zahl dieser Wohnungen soll von 3.500 auf 5.000 steigen.

Dabei will Rot-Rot-Grün den Bürger als Partner begreifen. Ob die Bürgerbeteiligung klappt, wird sich zeigen müssen – jedenfalls sind die Ziele der Stadtentwicklung ambitioniert: Die Altstadt soll nicht wieder aufgebaut werden, Grünflächen sollen dauerhaft gesichert werden, der Denkmalschutz geht an die Kultur, was überfällig war. Ach ja, und die Elisabeth-Aue bleibt unbebaut.

Nur an eines hat sich der neue Senat nicht getraut: die Bodenspekulation durch eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer zu dämpfen. Das ist übrigens auch das Einzige, was der Mieterverein kritisiert. Uwe Rada

Symbolwert: hoch

Bla-Bla-Faktor: gering

Realisierungschance: Fragezeichen

Ein Sieg für: Linke und Grüne

Ein Griff in die Trickkiste

Finanzen Rot-Rot-Grün will weiterhin einen ausgeglichenen Haushalt haben. Das geht aber nur, weil man neue Schulden in eine Tochtergesellschaft auslagert. Wird so die Schuldenbremse ausgehebelt?

Das war ein bemerkenswerter Satz für einen Linken. „Wir werden jetzt keine Steuern erhöhen – weil wir sie nicht brauchen“, sagte Linke-Chef Klaus Lederer nach der rot-rot-grünen Einigung. Nun können Länder und Gemeinden – Berlin ist beides – sowieso nicht an den großen Stellschrauben drehen, da Einkommen-, Vermögen- oder Erbschaftsteuer Bundesangelegenheiten sind. Aber über höhere Gewerbe-, Grund- und Grunderwerbsteuern käme was zusammen für soziale Wohltaten.

Dass Rot-Rot-Grün trotzdem meint, genug zu haben, hat viel mit einem Haushaltstrick zu tun. Ein zentrales Projekt nämlich, das auf ein Jahrzehnt angelegte milliardenschwere Schulbau- und Sanierungsprogramm, will man nicht aus dem Landeshaushalt bezahlen. Die nötigen Kredite soll nicht das Land aufnehmen, sondern eine privatrechtlich organisierte Tochtergesellschaft, quasi eine Schulbau GmbH – die wie auch sechs Wohnungsbaugesellschaften und die BVG in Landesbesitz wäre.

Auf dem Papier sieht das gut aus, weil der Haushalt – jene jährlich rund 25 Milliarden Euro schwere Übersicht über Einnahmen und Ausgaben – nicht die Schulden und Zinsverpflichtungen der landeseigenen Firmen erfasst. Deswegen kann Regierungschef Müller, ohne zu lügen, sagen, es sei „wichtig, dass wir nicht in die Verschuldung einsteigen“. Es soll sogar Raum für 80 Mil­lio­nen Euro Tilgung geben, um von den fast 60 Milliarden Euro Schulden runterzukommen. Das passiert aber langsamer als unter Rot-Schwarz: SPD und CDU hatten insgesamt rund drei Milliarden Schulden getilgt.

Das Ergebnis ist ein Kompromiss zwischen SPD einerseits und Linker und Grünen andererseits. Die mutmaßliche Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) argumentiert wie die Linke: Demnach sind die höheren Investitionen in Schulen und sonstige Infrastruktur quasi vorweggenommener Schuldenabbau. Denn wenn man etwa Gebäude weiter verrotten ließe, seien die späteren Kosten umso höher. Man kann das auch anders sehen: als Aushebeln der 2009 von Bundestag und Bundesrat beschlossenen „Schuldenbremse“. Die verbietet den Ländern neue Kredite ab 2020.

Dieses Instrument hat die Linke schon immer abgelehnt. Der nun gewählte Weg, Schulden in Tochterunternehmen zu verlagern, ist nicht neu. Er funktioniert auch eine Weile – bis bei steigenden Zinssätzen wieder zu spüren sein wird, dass Kredite ohne Tilgung viel Geld kosten. Stefan Alberti

Symbolwert: hoch

Bla-Bla-Faktor:klein

Realisierungschance: groß

Ein Sieg für: Die Linke

Mehr Humanität, weniger Härte

MIGRATION Geflüchtete und Zuwanderer dürfen sich freuen: Die Ausländerbehörde wird reformiert

Ganz klar: Das Kapitel „Metropole Berlin – Weltoffen, vielfältig, gerecht“ des Koalitionsvertrags, das sich den Themen Migration und Integration widmet, durchzieht ein im besten Sinne des Wortes liberaler Geist, den man in den vergangenen Jahren oft schmerzlich vermisst hat.

Zum Beispiel beim Thema Aufenthaltsrecht. Hier muss Rot-Rot-Grün das Rad nicht neu erfinden – das kann die Koalition auch nicht, weil vieles Bundesrecht ist. Aber spürbare Verbesserungen für nicht wenige Geflüchtete, etwa die vom Oranienplatz, dürfte es in der Tat bringen, wenn bestehende rechtliche Möglichkeiten „unter humanitären Gesichtspunkten ausgeschöpft“ werden, um Aufenthaltstitel zu erteilen oder zu verlängern. Die bislang CDU-geführte Ausländerbehörde legte die Gesetze eher restriktiv und im Sinne einer Zuwanderungverhinderungspolitik aus.

Nun soll eben dieses Amt „in Richtung einer Willkommensbehörde entwickelt werden“, wie die Geschäftsführerin der Linkspartei, Katina Schubert, erklärt. Das klingt hochtrabend, wird aber untermauert dadurch, dass eine ExpertInnenkommission die Verfahrenshinweise überarbeiten soll, nach denen die Mitarbeiter der Behörde etwa über Abschiebungen, Visaverlängerungen und Aufenthaltstitel entscheiden. Auch die Richtlinien der Härtefallkommission sollen in einem „großzügigen“ und „wohlwollenden“ Sinne verändert werden.

Nichtsdestotrotz wird auch Rot-Rot-Grün Geflüchtete abschieben, wie Grünen-Chefin Bettina Jarrasch bei der Präsentation der Ergebnisse des Fachbereichs Anfang November betont hatte. Aber: „An die Stelle einer reinen Abschiebepolitik soll die Förderung einer unterstützten Rückkehr treten“, besagt der Vertrag. Bestehende Rückkehrerprogramme des Bundes sollen mehr genutzt, „bei Bedarf durch ein Landesprogramm verstärkt“ werden. Zudem soll es keine Abschiebungen aus Schulen, Jugendeinrichtungen und Krankenhäusern mehr geben. Unter CDU-Innensenator Frank Henkel war dies zuletzt vermehrt vorgekommen.

„Wir wollen aus dem Wettbewerb der Bundesländer, wer mehr abschiebt, aussteigen“, sagt Schubert. So soll es laut Vertrag Abschiebungen „in Regionen, in die Rückführungen aus humanitären Grünen nicht tragbar sind, nicht mehr geben“. Dazu gehörten Abschiebungen „im Winter, in Regionen, wo es null Infrastruktur gibt und null Chancen für die Menschen“, erklärt Schubert.

Mit Erleichterung dürften Geflüchtete auch zur Kenntnis nehmen, dass Rot-Rot-Grün den Familiennachzug erleichtern will, etwa über das Landesprogramm für syrische Geflüchtete, das auf Iraker ausgeweitet wird. Eine Bundesrats­initiative soll den Familiennachzug auch für Verwandte zweiten Grades (etwa Eltern) möglich machen. Realisierungschance hier allerdings: eher mau. Susanne Memarnia

Symbolwert:hoch

Bla-Bla-Faktor:ebenfalls

Realisierungschance:50:50

Ein Sieg für:Linke, Grüne

Die Fallhöhe ist hoch

Bildung Jedes Kind bekommt künftig unbürokratisch einen Halbtagsplatz in der Kita und einen Platz im Schulhort. Das könnte ein linkes Vorzeigeprojekt werden – wenn denn das Geld reicht

Es wird bildungspolitisch das linke Symbolprojekt der kommenden Legislatur: freier Zugang zum Schulhort für alle Kinder, und ein Halbtagsplatz in der Kita für jedeN DreijährigeN – ganz egal, ob die Eltern arbeiten gehen und deshalb ein Betreuungsbedarf besteht oder nicht.

Die Zielgruppe: Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien sollen von einer Förderung in Kita und Hort profitieren. Denn wer erwerbslos ist, musste bisher einen Betreuungsplatz im Schulhort mühsam beantragen (was kaum jemand tat), und hatte grundsätzlich nur Anspruch auf fünf Kitastunden pro Tag – künftig sollen es sieben Stunden sein. Mehr Teilhabe und bessere Bildungschancen für die vermeintlich Schwachen dieser Gesellschaft also: Wozu hat man auch eine linke Regierung gewählt?!

Allerdings muss man hier abwarten, was haushälterisch möglich sein wird. Zum Schulhort heißt es im Vertragswerk: „Die Koalition wird die räumlichen und personellen Voraussetzungen dafür schaffen, die Bedarfsprüfung für die Ganztagsbetreuung in der Grundschule in dieser Legislatur abzuschaffen.“ Der erste Halbsatz vor dem Komma ist der Entscheidende.

Zwar sprachen der Regierende Michael Müller (SPD), Linken-Landeschef Klaus Lederer und Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am Mittwoch unisono von einer „Dekade der Investitionen“. Doch nicht von ungefähr fehlt im Koalitionsvertrag ein konkreter Zeitplan für die Abschaffung der Bedarfsprüfung. Denn bei der Frage, wie die „personellen Voraussetzungen“ eigentlich geschaffen werden sollen, bleibt Rot-Rot-Grün vage: Man wolle „die Ausbildungsplatzkapazitäten“ erhöhen, heißt es lediglich. Das hatte auch schon die bisherige SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres auf den Weg gebracht, und das wird nicht reichen.

Schon jetzt ist der Betreuungsschlüssel mit einer ErzieherIn für 22 Kinder in den Schulhorten schlecht. Nun sollen noch mehr Kinder länger in die Kita gehen – und die bereits unter Rot-Schwarz beschlossenen Verbesserungen zum Erzieherschlüssel sollen auch kommen. Das könnte eine Rechnung werden, die sich am Ende nicht begleichen lässt.

Als Linke und Grüne noch Opposition waren, haben sie mantraartig wiederholt: Bedarfsprüfung abschaffen, aber nicht ohne die Betreuungsqualität zu verbessern. Gelingt ihnen nun die „Gute Kita für Alle“, wie es im Vertrag heißt, und der freie Zugang zum Schulhort, dann hätte Berlin ein bildungspolitisches Vorzeigeprojekt sozialer Teilhabe. Echte linke Politik also, die was will. Entsprechend hoch ist die Fallhöhe.Anna Klöpper

Symbolwert: absolut

Bla-Bla-Faktor: Ja, leider

Realisierungschance: Die Bedarfsprüfung wird wohl wegfallen: Mit dem Versprechen können Eltern und Opposition die Koalition vor sich hertreiben. Ob es auch gelingt, den Fachkräftemangel anzugehen? 50:50

Ein Sieg für: Linke und Grüne. Vorläufig

Die Fahrtrichtung stimmt

Verkehrspolitik Die RadfahrerInnen dürfen sich freuen: Rot-Rot-Grün will viele Ziele des Volksentscheids übernehmen. Und verabschiedet sich weitgehend vom Auto

Beginnt endlich das Zeitalter des Fahrrads? Ein bisschen liest sich das Verkehrskapitel des Koalitionsvertrags so – und das haben Berlins RadlerInnen keineswegs nur dem fortschrittlicheren verkehrspolitischen Profil von Grünen und Linken zu verdanken. Es war der gewaltige politische Druck der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“, der die versprochene massive Aufstockung von Stellen und Mitteln (40 Millionen Euro 2018, dann 51 Millionen jährlich) für den Ausbau der Infrastruktur ermöglicht hat.

Zwei Meter breite Radstreifen entlang des Hauptstraßennetzes, ein Fahrradstraßennetz, 100 Kilometer Radschnellwege, sicherer Umbau gefährlicher Kreuzungen, Fahrradparkhäuser und noch viel mehr: All das soll in einem künftigen Radverkehrsgesetz konkretisiert werden. Zwar hat der „Volksentscheid Fahrrad“ längst einen Entwurf vorgelegt, aber die Politik möchte dann doch noch ein Wörtchen mitreden. Immerhin soll der Gesetzgebungsprozess „im Dialog mit dem ‚Volksentscheid Fahrrad‘ und anderen Mobilitätsinitiativen und Verbänden“ geschehen.

Beim „Volksentscheid Fahrrad“ ist man denn auch verhalten optimistisch. „Wir sind noch nicht über den Berg“, sagt Mitinitiator Peter Feldkamp. „Wir brauchen ein Gesetz mit vernünftigen Fristen und Verbindlichkeiten.“ Bislang sei vor allem von „Zielgrößen“ oder der „Berücksichtigung der Ziele des Volksentscheids“ die Rede. Aber Feldkamp schließt nicht aus, dass ein rot-rot-grünes Radverkehrsgesetz ein Volksbegehren überflüssig machen könnte.

Festgelegt haben sich die Koalitionäre auf eine zentrale Projektsteuerung in Form einer „Velo GmbH“, die vorläufig unter dem Dach der Grün Berlin GmbH operieren soll. Es war die Lieblingsidee von Verkehrssenator Andreas Geisel und Staatssekretär Christian Gaebler (beide SPD), die nun freilich bei dem Thema gar nicht mehr mitmischen. Allerdings kann Geisel als künftiger Innensenator das Seinige tun, um die in der Koalitionsvereinbarung angekündigte klare Kante gegen Falschparker auf Radstreifen und Busspuren zu zeigen.

Balsam auf die Seele frustrierter RadlerInnen sind einige weitere Ankündigungen, auch wenn sie – wie so vieles – nur in Form von Prüfaufträgen auftreten. Aber wer hätte gedacht, dass Berlin tatsächlich ein Pilotprojekt „Grüner Pfeil für Radfahrer*innen“ bekommen soll? Das ist noch nicht der „Idaho-Stop“, der rote Ampeln für Radler zu Stoppschildern macht. Aber die Richtung stimmt. Genauso simpel und genial wären die Erlaubnis der Fahrradmitnahme mit der VBB-Umweltkarte – das Ende der Abzocke durch Fahrradtickets – und die Aufwertung dieser Karte, indem sie bereits den Pauschaltarif des neuen Leihfahrradsystems enthielte.

Auch sonst hat der „motorisierte Individualverkehr“, sprich der private Pkw, ganz schön ausgedient. Die Verlängerung der A100 nach Friedrichshain wird auf Eis gelegt, Unter den Linden dürfen wohl nur noch ÖPNV und Taxis rollen. Dafür verspricht Rot-Rot-Grün den Ausbau des Tramnetzes und die Neuanschaffung von Fahrzeugen bei der BVG. Neue Busspuren sollen eingerichtet, die zeitlichen Einschränkungen der bestehenden aufgehoben werden.

All das klingt wirklich nach einer „Einleitung der Mobilitätswende“, wie es die Vereinbarung gelobt. Dafür, dass wir das Jahr 2016 schreiben, kommt die spät. Aber sie kommt. Wenn sie kommt. Claudius Prößer

Symbolwert: hoch

Bla-Bla-Faktor: vorhanden

Realisierungchance: Man kann dran glauben

Ein Sieg für: die Radfahrer

Volksentscheide: Sabotage war gestern

Demokratie Die Freunde direkter politischer Mitsprache dürfen sich freuen – ein bisschen

Zwei Anträge auf Durchführung eines Volksbegehrens sind in Berlin derzeit anhängig: die der Initiativen „Volksentscheid Fahrrad“ und „Volksentscheid retten“. Beide verschimmeln seit Monaten in der Senatsinnenverwaltung. Sie muss die vorgelegten Gesetzentwürfe juristisch prüfen, bevor das Abgeordnetenhaus politisch darüber befinden kann.

Die Initiatoren vor allem der Fahrradinitiative sind wütend und sprechen von Sabotage. Denn inzwischen ist ihr sorgfältig ausgetüftelter Zeitplan obsolet, nach dem der potenzielle Volksentscheid am Tag der Bundestagswahlen 2017 hätte durchgeführt werden können. Allein, die Senatsverwaltung darf sich im Gegensatz zum Parlament so lange Zeit zum Prüfen lassen, wie sie will.

Just das zu ändern und eine verbindliche Frist einzuführen ist eine der Forderungen von „Volksentscheid retten“. Und wer sagt’s denn: Die Koalitionäre haben sie erhört. Außerdem, so steht es in ihrer Vereinbarung, soll die Durchführung von Volksentscheiden an Wahltagen (was ausreichend hohe Beteiligung garantiert) zum Standard werden. Man will sogar prüfen, ob die Kosten für Öffentlichkeitsarbeit, die den Initiativen im Zusammenhang mit Volksbegehren und Volksentscheiden entstehen, vom Land teilweise erstattet werden können.

Allerdings fehlen zwei Punkte von „Volksentscheid retten“ völlig: eine Absenkung der Beteiligungsquoren und das „fakultative Referendum“ – ein Instrument, das etwa den HamburgerInnen zur Verfügung steht. Es bedeutet: Wenn die Politik ein unbequemes Gesetz, das per Volksentscheid zustande gekommen ist, wieder ändern oder gar aufheben will, darf das Volk darüber mit einem Extra-Entscheid abstimmen. So weit ist Berlin offensichtlich noch nicht. Claudius Prößer

Symbolwert: nennenswert

Bla-Bla-Faktor: gering

Realisierungschance: ja, durchaus

Ein Sieg für: echte DemokratInnen

Ein Meilenstein

Drogenpolitik Berlin startet ein Cannabis-Modellprojekt. Anders als in Hamburg wurde für die SPD auch kein Hintertürchen offen gehalten

Bis zuletzt hat Rot-Rot-Grün um diesen Punkt gerungen. Die SPD wollte nicht. Doch Grüne und Linke haben sich durchgesetzt – ohne Wenn und Aber: Berlin startet ein Cannabis-Modellprojekt. Selbst der Deutsche Hanfverband, die Lobby für eine Cannabisfreigabe, ist voller Lob. „Das ist ein Meilenstein hin zu einer liberaleren Cannabispolitik“, sagt Sprecher Georg Wurth.

Der Wortlaut: „Die Koalition wird ein Konzept für die Durchführung eines wissenschaftlich begleiteten Modellprojekts zur kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene erarbeiten und sich für dessen gesetzliche Absicherung einsetzen.“ Ist das nicht reine Symbolpolitik? Immerhin hatte Friedrichshain-Kreuzberg auch ein Modellprojekt zur Cannabisabgabe an Erwachsene geplant; der Bezirk war damit 2015 kläglich am CDU geführten Bundesgesundheitsministerium gescheitert.

Wenn die deutsche Hauptstadt einen solchen Antrag stelle, „erhöht das massiv den Druck“, meint Wurth. Zudem sei Berlin nicht allein. Auch Bremen, Münster und Düsseldorf wollen solche Projekte starten. Und dass Rot-Rot-Grün verspricht, sich „für die gesetzliche Absicherung“ des Vorhabens einzusetzen, sei ein wichtiger Zusatz, so Wurth. Denn: Das Betäubungsmittelgesetz müsse so verändert werden, dass Modellversuche nicht mehr an Bundesbehörden scheitern, weil die Länder sie selbst genehmigen können.

Anders als Hamburg habe sich die künftige Berliner Regierungskoalition auch kein Hintertürchen offen gelassen, freut sich Wurth. In der Hansestadt hätten sich SPD und Grüne im Koalitionsvertrag auf die Formulierung geeinigt: „Es wird geprüft, ob ein Modellprojekt durchgeführt werden kann.“ Prüfen bedeutet: „Man macht eine Anhörung zu dem Vorhaben, holt einen Experten, der dagegen ist und das Projekt ist tot.“ PLUTONIA PLARRE

Symbolwert:high

Bla-Bla-Faktor:kommt auf die Dosis an

Realisierungschance: Bis dahin werden noch viele Joints verglühen

Ein Sieg für: Grüne und Linke