: Humanismus in der Zukunft
Säkulare Wende Vor 500 Jahren erschien der Roman „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“ im flämischen Leuven. Zum Jubiläum finden im dortigen Museum M und in der Unibibliothek Ausstellungen statt
von Klaus Englert
In der frühen Neuzeit war Utopia eine Insel, auf die sich zahlreiche Wunschfantasien richteten. Ambrosius Holbein stellte 1518 einen Holzschnitt her, der im Hintergrund die bewohnte Trauminsel zeigt, mit blühenden Handelsbeziehungen zur Außenwelt. Auffällig ist besonders der Vordergrund. Hier steht der Reisende Raphael Hythlodaeus und zeigt seinem Gesprächspartner Thomas Morus stolz die von ihm entdeckte Insel. Natürlich ist die Szene pure Fiktion. Hythlodaeus, der den Amerika-Entdecker Amerigo Vespucci auf seiner berühmten Schiffsreise begleitet haben soll, ist eine Fantasiegestalt. Nur der Schriftsteller Thomas Morus, der den Roman schrieb und die gleichnamige Insel erfand, ist real.
Gelehrter und Humanist
Das weltbekannte Werk mit dem vollständigen Titel „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“ erschien vor 500 Jahren in der flämischen Universitätsstadt Leuven. Sein Verfasser war der englische Gelehrte, Humanist und Politiker Thomas Morus, der 1515 als Gesandter ins wirtschaftlich, wissenschaftlich und künstlerisch florierende Flandern reiste. Dort kam er in Kontakt mit den Renaissance-Humanisten Erasmus von Rotterdam, dem Antwerpener Pieter Gillis und dem Spanier Juan Luis Vives. Auch der Flandern-Reisende Albrecht Dürer, der Augsburger Hans Holbein, dessen Bruder Ambrosius und nicht zuletzt der aus Leuven stammende Quentin Massys standen den Humanistenkreisen nahe. Nachdem Erasmus sein Buch „Moriae encomium“ („Lob der Torheit“) in Morus’ Londoner Haus geschrieben hatte, verfasste und publizierte der Freund den Roman „Utopia“ (beide Bücher wurden von Hans Holbein illustriert) im fernen Flandern, da er hier vor den Nachstellungen der Krone sicher war. Denn „Utopia“ war zweifellos eine verschlüsselte Kritik an der Monarchie unter Heinrich VIII. Der darin beschriebene Idealstaat, der Privateigentum und Geld abschaffte und eine auf egalitären Grundsätzen basierende Gemeinschaft bildete, war nicht nur geografisch weit entfernt von der korrupten Willkürherrschaft der englischen Monarchie, deren anfänglich humanistisches Antlitz alsbald infolge der Machtgelüste Heinrichs VIII. verdrängt wurde.
Die derzeit in Leuvens Museum M und der Universitätsbibliothek gezeigten Jubiläums-Ausstellungen offenbaren nicht allein die Gelehrtenfreundschaften in der Frührenaissance, sie veranschaulichen auch die Fantasien vom besseren Leben, die auf die Neue Welt projiziert wurden. Vespuccis Reisebriefe über den neu entdeckten Kontinent beflügelten die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen. Johannes Stradanus und Philips Galle fertigten 1590 eine Grafik an, die zeigt, wie der mit Emblemen der Herrschaft ausgestattete Vespucci nach der Landung auf dem neuen Kontinent die allegorische Figur der nackten America trifft, während im Hintergrund die Feuer der Eingeborenen lodern. Auch Thomas Morus las die Zeugnisse des italienischen Seefahrers und ließ in „Utopia“ Hinweise auf Vespuccis Expedition einfließen. Allerdings gibt es zwischen Morus’ „Utopia“ und den zeitgenössischen Darstellungen der Neuen Welt gravierende Unterschiede: Der Autor stellte sich das Leben auf der vor dem Kontinent gelegenen Insel nicht als barbarisch, sondern als erstaunlich zivilisiert vor. Morus übertrug dabei seine Kenntnisse aus der Lektüre griechischer, mittelalterlicher und neuzeitlicher Texte, die er in die Darstellung der Lebensweise der Utopier einfließen ließ.
Präzise Kartografie
Als Morus „Utopia“ 1515 in Leuven verfasste, lag die erste Weltkarte mit einer Darstellung Amerikas gerade acht Jahre zurück. Martin Waldseemüllers „Mapa Mundi“ von 1507 fehlt zwar in der Ausstellung, dafür wird deutlich, wie sich die Faszinationskraft der Neuen Welt in immer präziseren Weltkarten niederschlug. Während im späten 15. Jahrhundert die Karten Nordafrikas noch mit Monstern reich illustriert waren und die Imagination anregten, war Pierre Desceliers’ Kartografie der bislang bekannten vier Kontinente (1550) schon erstaunlich präzise. Obgleich Thomas Morus Augustinus’ „Civitas Dei“ kannte, entwickelte er in „Utopia“ genaue Vorstellungen von der Lebensform in den 54 Städten des Inselreichs: Gleiches Recht für alle, monogame Ehe, gemeinschaftlicher Besitz, Sechsstundentag und verbesserte Krankenversorgung bilden Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung. Zudem sollten alle zehn Jahre die Wohnhäuser ausgelost werden. Schließlich wurde in Utopia die Armut beseitigt; jeder könne dort, so Morus, „ohne Sorge fröhlich und ruhig leben.“ „Utopia“ war erste weltliche Utopie, erste Idealstadt der Renaissance. Allerdings knüpft sie noch an den kirchlichen Stadtvorstellungen des Mittelalters an, vornehmlich am Ideal des Himmlischen Jerusalem, in dem Scholastiker das Urbild harmonischer Maßverhältnisse erblickten. Entsprechend wollte der spätere englische Lordkanzler auch mit dem chaotischen Stadtbild des Mittelalters aufräumen. Seit Erscheinen von Thomas Morus’ Roman gilt: Der soziale und räumliche Bezug auf eine verbesserte Lebenssituation sollte zum Wesensmerkmal der Utopie werden. Utopia läutete also eine säkulare Wende ein. Das Andere – der Bezug auf einen anderen Ort, einen anderen Topos, eine andere Gesellschaft – wurde von nun an bestimmend für das utopische Denken.
Später, in den sozialrevolutionären Utopien des 19. Jahrhunderts, wird dieser Ort allerdings in die Zukunft verlagert. Karl Kautsky beschrieb 1926 den englischen Juristen als Vordenker einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft. Und Karl Marx, der Morus’ „Utopia“ gutkannte, sprach vom „Reich der Freiheit“, in dem die Menschen, endlich von den kapitalistischen Produktionszwängen befreit, ihre Anlagen und Bedürfnisse allseits ausbilden könnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren neomarxistische Philosophen überzeugt, die Entwicklung der Technik würde die menschliche Lebenswelt und die Beziehungen zwischen den Menschen verbessern. Erst heute sehen wir, dass dieser Glaube an die Funktion von Technik im Dienste einer gerechteren Gesellschaft ein Irrglaube war. Die digitalen Techniken haben alles Utopische in sich aufgesogen, bis das Bedürfnis danach zum Anachronismus wurde.
Tausend Egos
Das Navigieren in digitalen Welten hat sich der Koordinaten des Raums – griechisch: des topos – entledigt. Aber auch des Gesellschaftlichen. Deshalb ist die Rede von den „sozialen Medien“ purer Euphemismus. Und so lautet auch das von Konzernzentralen im Silicon Valley gestreute Mantra „Selbstoptimierung“. Woraus allerdings resultiert, dass tausend „Freunde“ nichts weiter sind als tausend „Egos“, die niemals zu einer sozialen Gemeinschaft finden werden. Wenngleich die „sozialen“ Medien nicht davon ablassen, genau dies den Nutzern zu suggerieren. Wie bei der inflationären Produktion von Selfies werfen diese Medien uns das eigene Bild zurück, in das wir selbstverliebt starren.
Die Utopie befreit sich zusehends vom Sozialen und wandert ins Technische ab. Konsequenterweise spricht man dort nicht von Utopien, sondern von Revolutionen. Tatsächlich werden „Revolutionen“, Schritte in neue digitale Welten, in immer kürzeren Zeitspannen ausgerufen. Morgen schon wird, obwohl man sich gerade ans alte gewöhnt hat, das allerneueste iPhone als das technische Nonplusultra verkündet. Konsumentenerwartungen scheinen sich auf quasi religiöse Phänomene zu richten.
Der Sozialphilosoph Ernst Bloch bemerkte einmal: „Der Fortschrittsbegriff ist einer der teuersten und wichtigsten.“ Allerdings bedeute er nichts ohne „gesellschaftlichen Auftrag“ und „Zielinhalt“. Fortschritt in Blochs Sinn war noch utopisch und zukunftweisend. Dieses Begriffsverständnis ist mittlerweile völlig ausgedünnt. In den digitalen Medien erscheint Fortschritt allein als grenzenloses Surfen durch schwerelose Clouds. Es ist ein Fortschritt ohne Ort, ohne Gesellschaft und ohne sozial vermittelte Zukunft.
Bis 17. Januar: M – Museum Leuven: „Auf der Suche nach Utopia“; „The Future is More. 500 Years Utopia“, Universitätsbibliothek Leuven.
Jan van der Stock: „In Search of Utopia. Art and Science in the Era of Thomas Morus“. Amsterdam University Press 2016, 416 Seiten, 59,95 Euro
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