Vorwurf Sozialbetrug: Prüfen kann man immer noch

Bremerhaven streicht EU-Bürgern aus Südosteuropa die Leistungen – manchmal auch prophylaktisch und ohne Bescheid.

Bremerhaven streicht Sozialleistungen auch mal ohne Bescheid. Foto: Andreas Gebert/dpa

BREMEN taz | Wer bei einer deutschen Behörde etwas beantragt, erhält nach einer Weile einen Bescheid. Bei Bewilligung ebenso wie bei Ablehnung, und auch, wenn zuvor gewährte Leistungen künftig gestrichen werden. Eigentlich gilt dieses Grundprinzip der deutschen Verwaltung auch in Bremerhaven.

Dort werden gerade ziemlich viele Leistungen nicht mehr gewährt, denn nach dem massenhaften Sozialbetrug mit Scheinarbeitsverträgen für MigrantInnen, der im Frühjahr bekannt geworden war, stehen jetzt die Ansprüche der EU-Bürger mit jenen zweifelhaften Arbeitsverträgen auf dem Prüfstand. In vielen Fällen haben die Behörden die Leistungen schon gestrichen und ihre Entscheidung den Betroffenen in einem Bescheid mitgeteilt – in mindestens einem Fall jedoch strich das Amt für Familie Leistungen aus dem Unterhaltsvorschussgesetz kommentarlos.

Nicht nur das Vorgehen erscheint mehr als befremdlich, auch die Begründung für die Streichung liest sich abenteuerlich: In einem Aktenvermerk, der der taz in Kopie vorliegt, heißt es: „Aus gegebenem Anlass werden die Leistungen nach dem UVG vorsorglich zeitweise eingestellt und die Anspruchsvoraussetzungen überprüft.“ Der gegebene Anlass steht auch in dem Schreiben: „Im Frühjahr dieses Jahres wurde der Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Neubürger in der Stadt Bremerhaven öffentlich. Ermittlungen hierzu laufen.“

Im Klartext heißt das: Aufgrund des Sozialbetrugs werden Leistungen eingestellt, und zwar nicht nach der Überprüfung des Einzelfalls, sondern „vorsorglich“.

Zeitgleich wurden der Betroffenen, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, die Leistungen des Jobcenters gestrichen und die Hortgebühren hochgesetzt. Denn wer keine Sozialleistungen bezieht, hat auch keinen Anspruch auf einen vergünstigten Hortplatz für das Kind.

Jan Sürig, Rechtsanwalt

„Da wird nach dem Rasenmäherprinzip verfahren“

Inzwischen hat die Betroffene eine Klage gegen das Jobcenter gewonnen – eine weitere gegen die Entscheidung, die Unterhaltsleistungen zu streichen, läuft noch. Rechtsanwalt Jan Sürig spricht von einem unzulässigen „Rasenmäherprinzip“, nach dem in Bremerhaven verfahren werde.

Und das Amt für Familie? „Es wurden keine Zahlungen ausgesetzt“, heißt es dort, „sondern die geltenden rechtlichen Regelungen werden angewendet.“ Eine Nachfrage der taz, was dann der Aktenvermerk zu bedeuten habe, in dem die „vorsorgliche“ Aussetzung der Zahlung begründet wird, bleibt im Kern unbeantwortet. Selbstverständlich ergehe nach erfolgter Einzelfallprüfung auch ein Bescheid – eine weitere Präzisierung sei aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich, heißt es nur.

Inzwischen haben viele der etwa 1.300 in Verdacht des Sozialbetrugs geratenen EU-Bürger Bremerhaven wieder verlassen. Damit spart die Stadt Sozialleistungen, was durchaus beabsichtigt ist – dafür nehmen die Behörden auch in Kauf, dass Betroffene nicht mehr als Zeugen vernommen werden können. Und der Umstand, dass damit EU-Bürger aus Südosteuropa unter Generalverdacht gestellt werden, kümmert die Behörden schon gar nicht.

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