: Packen, erreichen, was auslösen
Shortlist Sechs Romane stehen im Finale. Sie alle sind zumindest eines: LeserInnenfreundlich
von Dirk Knipphals
Der Preis:Wird seit 2005 für den besten deutschsprachigen Roman verliehen, kurz vor der Frankfurter Buchmesse. Prämie: 25.000 Euro, Finalistenprämie: je 2.500 Euro.
Shortlist:„Fremde Seele, dunkler Wald“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff,„Skizze eines Sommers“ von André Kubiczek,„Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle,„Ein langes Jahr“ von Eva Schmidt,„Hool“ von Philipp Winkler
Preisträger:Arno Geiger, Katharina Hacker, Julia Franck, Uwe Tellkamp, Katharina Schmidt, Melinda Nadj Abonji, Eugen Ruge, Ursula Krechel, Terézia Mora, Lutz Seiler, Frank Witzel
Die Novelle „Widerfahrnis“ des Schriftstellers Bodo Kirchhoff beginnt damit, dass eine Geschichte jemandem „das Herz zerreißt“. Das wird selbstverständlich literarisch gebrochen präsentiert, dennoch: So eine Nähe zu Floskel und Kitsch muss man sich erst einmal trauen. Schließlich wird so ein Anfang schnell lächerlich, wenn die Geschichte, die folgt, ihn nicht einlösen kann. Sie kann es in diesem Fall. Bodo Kirchhoffs schönes, in manchem fast weises Buch steht ganz zu Recht auf der Shortlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis.
Zugleich gibt dieser Anfang sogar ein Motiv vor, das sich über die Liste insgesamt setzen ließe. Dies ist eine Liste für Leserinnen und Leser. Die Romane wollen ihre Leser erreichen, packen und etwas bei ihnen auslösen. Und auch das: Mit dieser Liste ist garantiert, dass in diesem Jahr kein Buch den Deutschen Buchpreis bekommt, der die Leser vom schieren Umfang her zu sehr herausfordert.
Nachdem Guntram Vespers Tausendseiter „Frohburg“ in diesem Frühjahr den Leipziger Buchpreis bekommen hat und Frank Witzels auch sehr dickes Buch „Die Erfindung …“ im vergangenen Herbst den Deutschen Buchpreis, wurde im Literaturbetrieb schon ein Trend zu ausufernden Buchprojekten diskutiert. Aber das war nur eine Momentaufnahme. Auf der diesjährigen Shortlist steht kein Roman, der länger ist als die handhabbaren 350 Seiten. Man hört die Buchhändler förmlich aufatmen.
Herausforderungen gibt es dennoch. Die größte – allerdings in sehr positivem Sinn – wird für viele Leser Thomas Melles Buch „Die Welt im Rücken“ sein, kein Roman im eigentlichen Sinne, sondern eine grundehrliche und mit großem Peinlichkeitsmut geschriebene Schilderung der schweren bipolaren Störung dieses Autors. Neben Christian Krachts Roman „Die Toten“ (der schon auf der Longlist nicht berücksichtigt worden war) ist das das Buch, das bislang in diesem Herbst am meisten diskutiert und, wie die Reaktionen in den sozialen Medien zeigen, auch mit der größten Emphase gelesen wurde. Dass es einem über der Lektüre schier das Herz zerrissen hätte, kann man auf vielen Blogs nachlesen. Es gehört viel erzählerisches Können dazu, so aufrichtig schreiben zu vermögen.
André Kubiczeks Roman „Skizze eines Sommers“ löst dagegen eher Rührung aus. „Unschuldig“, so die Jury, wird hier vom Sommer 1985 noch in der DDR erzählt. Diese Geschichte um vier jugendliche Freunde stammt noch aus dem Frühjahr.
Unschuldig – das Adjektiv würde einem bei Philipp Winklers Debütroman „Hool“ ganz gewiss nicht einfallen. Das Buch spielt in der Hooliganszene von Hannover. Auch Philipp Winkler schreibt durchaus auf Wirkung bedacht, aber er protzt dabei keineswegs mit Gewaltschilderungen, und seine Unterklassensprache, in der die derben Sprüche der harten Jungs aus der Anabolika- und Alkoholszene verarbeitet sind, ist, wenn man genau hinguckt, sehr kunstvoll. In Wirklichkeit ist das auch gar kein Hooliganroman, sondern eine Coming-of-Age-Geschichte, in der der Held lernen muss, sich von seiner Herkunft zu lösen. Nur eben in einem Milieu angesiedelt, dem die deutschsprachige Literatur sonst kaum individuelle Krisen zutraut. „Hool“ jedenfalls ist literarisch sehr ernst zu nehmen.
„Fremde Seelen, dunkler Wald“ des 1982 geborenen österreichischen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker ist wohl das Buch, das am wenigsten in das Schema des direkten Herzzerreißens passt. Der Roman spielt zwar in der modernen Welt, aber dort, wo sie noch am archaischsten ist: in einem Alpendorf. Und vom Erzählgestus her haftet ihm etwas Traditionelles, fast Altertümliches an. Manche Kritiker fühlen sich an Adalbert Stifter erinnert.
Nur eine Autorin ist dabei: Eva Schmidt mit ihrem Episodenroman „Ein langes Jahr“. Und, selbst wenn das Buch beim österreichischen Verlag Jung & Jung verlegt wurde, der beim Deutschen Buchpreis schon zwei Überraschungssiegerinnen hervorgebracht hat, würde man glatt seine heilige Proust-Ausgabe verwetten: Am Schluss wird es nicht Eva Schmidt sein, die den Buchpreis bekommt; dazu ist ihr Roman schlicht zu zurückhaltend und bewusst klein angelegt.
Das unausgeglichene Geschlechterverhältnis ist auffällig. Allerdings bekommt man hier auch keineswegs ungebrochene Männlichkeit präsentiert. Hadern mit der eigenen Identität und die Suche nach ihr sind klassische Themen der Literatur. Hier stehen Bücher, die das mit großer Wirkung zu verbinden wissen.
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