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Verdrängung kannsehr wohl Leben retten

Saisonstart Als „Theater des Jahres“ startet das Maxim Gorki mit Dramatik in die Spielzeit: Yael Ronen entwickelt ein Stück über Verdrängung, im Studio gibt es Texte über Flucht und Migration

Çiğdem Teke und Maryam Zaree in „Denial“ von Yael Ronen Foto: Ute Langkafel

von Barbara Behrendt

Selbstermächtigung! So lautet seit der Intendanz von Shermin Langhoff und Jens Hillje das Credo am Gorki-Theater, das man oft arg demonstrativ vor sich herträgt. Das Gorki ist der Hipster unter den Berliner Bühnen – und wurde gerade wieder, gleichauf mit der Volksbühne, von Kritikern zum „Theater des Jahres“ gewählt. Das Konzept, weniger auf ästhetische Experimente zu setzen als auf Geschichten von Menschen an den Rändern der Gesellschaft, gelingt. Es gibt keine „Geschichten über“, sondern „Geschichten von“ – in diesem Zeichen stehen auch die Eröffnungspremieren dieser Saison: alles neue Texte, die oft von den Autoren selbst erzählen.

Sprechen und nachdenken

Von sich sprechen, über sich selbst nachdenken – keine hat das so verinnerlicht wie die Israelin Yael Ronen, die Gruppentherapeutin unter den Regisseuren. Ihr neues Stück „Denial“ ist in Zusammenarbeit mit dem Ensemble entstanden, wie schon „Dritte Generation“, „Common Ground“ und „The Situation“. Während diese Stücke allerdings vom Privaten ins Politische vordrangen, bleibt „Denial“ vorrangig bei der privat-psychologischen Dimension der Verdrängung. Zunächst nehmen die Schauspieler ihre Erinnerung an die ach so glückliche Kindheit aufs Korn. Sie stehen da mit den uncoolen Klamotten, in die ihre Eltern sie damals gesteckt haben; Çiğdem Teke erzählt von ihrer Mutter, die sie so lieb hatte, dass sie keinen Tag ohne Tochter sein wollte: „Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern durfte den ganzen Tag mit meiner Mutter im Haus verbringen. Das hatte den Vorteil, dass mich Deutsch nicht in meiner türkischen Sprachentwicklung behinderte.“ Die Eltern-Kind-Beziehungen stehen im Zentrum. Zuerst im Ronen-typischen, ironisch-klugen Komödien-ton, später geschmerzter, wenn zur Sprache kommt, was die Eltern den Kindern verschwiegen, was sie selbst verdrängt haben.

Orit Nahmias spielt „Dorit“, die so stolz auf ihren James-Bond-Papa war – bis sie herausfindet, was er beim israelischen Geheimdienst wirklich tat. Maryam Zaree als „Marian“ erfährt erst aus der Zeitung, dass ihre Mutter sie in einem iranischen Gefängnis zur Welt gebracht hat. Sprechen kann sie mit ihr darüber nicht.

Schon die Ähnlichkeit zwischen den Namen der Schauspieler und ihrer Rollen weist auf den autobiografischen Ursprung vieler Geschichten hin. Spannend wird es, wenn die Konflikte auf der Bühne nicht nur nacherzählt, sondern auch ausgetragen werden: etwa, wenn Nahmias das Publikum von den Gewaltattacken ihres Exmanns überzeugen will, während Dimitrij Schaad sie in dessen Rolle zur pathologischen Lügnerin erklärt.

Schaad erzeugt den bedrückendsten Moment, als er einen missbrauchten Jungen spielt, der erst als Erwachsener von Erinnerungsblitzen niedergeworfen wird. Wie durch einen dichten Wald bahnt er sich einen Weg durch die weißen Lamellen, die von der Decke herabhängen und auf die immer wieder, schemenhaft wie die Erinnerung, die Gesichter der Schauspieler projiziert werden. Gesichter unter Wasser, die schwerelos schweben. Spätestens hier wird spürbar: Überflüssig ist die Verdrängung nicht. Sie ist Lebensrettung, wenn man die Wahrheit noch nicht aushalten kann. Ronens Inszenierung berührt, und trotz einiger szenischer Beliebigkeiten spüren wir unsere eigenen blinden Bewusstseinsflecken.

Viel Zeit, wenig Druck

Maryam Zaree hat ihre Lebensgeschichte auch zum eigenen Stück fürs Studio verarbeitet, hier wirkt sie eindrücklicher: In „Kluge Gefühle“, geschickt eingerichtet von Nurkan Erpulat. Zaree gelingt die Gratwanderung zwischen Selbstironie und ernster Auseinandersetzung mit ihrer (oder einer?) Biografie. Im Internet stößt die Tochter auf den Livestream, in dem die Mutter über ihre Folterung als schwangere Frau im iranischen Gefängnis aussagt. Nichts davon hatte sie gewusst. Auch wenn manches skizzenhaft wirkt, ist es doch das stärkste der fünf Stücke, die an zwei Abenden das Studio eröffnen. Aber auch Studioleiter Necati Öziri hat mit „get deutsch or die trying“ ein dialogstarkes Drama geschrieben: Vier Jugendliche hängen auf einem Berliner Bahnhof ab, sie stammen von überall und gehören nirgendwo hin. Die liebevoll-ironische Inszenierung von Sapir Heller zeigt, was in dem Text steckt. Die anderen Stücke, die im „NIDS“ entstanden sind, dem „Neuen Institut für Dramatisches Schreiben“, geleitet von der Autorin Maxi Obexer und der Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann, sind noch Fragmente. „Work in progress“ also, keine Uraufführungen fertiger Stücke: Mit viel Zeit und wenig Druck will man weiterhin „die Stimme erheben und einstehen für Dinge, für die man brennt“, so Salzmann. Auch hier: Selbstermächtigung!

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