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Geschichten, die einander beschützen

POESIE Hinemoana Baker ist Neuseelands Berlin Writer in Residence. Sie schreibt auf Englisch und Maori, am Samstag ist sie Gast der Poetry Night im Literaturhaus

Hinemoana Bakers Vater ist Maori. Sie hat Hunderte Cousins und Cousinen Foto: Ksenia Les

von Franziska Buhre

Schmerz sucht sich manchmal einen Kanal, um durch den Körper zu fluten. Das kann die Wirbelsäule sein, der Darm, die Muskulatur. Der Schmerz kann lähmen, die Gedanken vernebeln, jeden Tag zu einem unvorstellbaren Kraftakt werden lassen. Hinemoana Baker ist angeschlagen, als sie Ende Oktober 2015 Berlin erreicht. In den Monaten darauf peinigen sie Schmerzen und Ängste, denn Baker hat eine tieftraurige Geschichte aus Neuseeland mitgebracht, die sie schreibend mit einer eigenen leidvollen Erfahrung verwebt. Sie ist dankbar, gerade in Berlin um ihr Buch zu ringen.

„Wie offen und ehrlich die Menschen hier mit der deutschen Geschichte umgehen, war eine heilsame Erfahrung für mich“, erzählt sie beim Gespräch in der Wohnung, die der Arts Council Neuseelands für sie in Friedrichshain gemietet hat. „Hier fällt es mir viel leichter, die Geschichten ans Licht zu bringen, weil wir in Neuseeland erst am Anfang sind mit der Aufarbeitung unserer Vergangenheit. Die Kolonialisierung hat viele Menschen ihrer Wurzeln beraubt, auch ich habe Jahre gebraucht, um sie wiederzufinden.“

Das Beziehungsgeflecht ihrer Herkünfte benennt Baker in der Tradition der Maori, der indigenen Bevölkerung Neuseelands. „Ich stamme ab von Ngāi Tahu, Ngāti Raukawa, Ngāti Toa, Te Āti Awa und habe Erbe in England und Bayern. Alle diese Stämme sind ebenbürtig in mir präsent.“ Bakers Vater ist Maori und seiner war Pakeha, hatte also britische Vorfahren, die Vorfahren von Bakers Mutter kamen aus Oberammergau. Whakapapa ist der Überbegriff für die genealogischen Verzweigungen der Maori, die in Begegnungen zwischen nahen und fernen Verwandten, Gästen und Gastgebern ausgesprochen werden. Hinemoana Baker wurde 1968 in Christchurch auf der Südinsel geboren, aufgewachsen ist sie an vielen Orten auf beiden Inseln. Sie hat Hunderte Cousins und Cousinen, die als bedeutende Weggefährten in Kindheit, Jugend und erwachsene Seelenverwandte auch in ihren Gedichten auftauchen. Bakers Vater hatte zwölf leibliche Geschwister und sechs Stiefgeschwister. Ihr Großvater gab seine fünf Söhne 1949 in ein katholisches Waisenheim in der Stadt Nelson, weil er nach dem Tod seiner Frau nicht für alle Kinder sorgen konnte.

2014 besuchte Baker diesen Ort schrecklicher Erinnerungen gemeinsam mit ihrem Vater, woraufhin viele ehemalige Heimkinder Kontakt mit ihr aufnahmen. Diese Zeitzeugenberichte hat sie mit nach Berlin gebracht. Mit welcher Grausamkeit die Nonnen damals die Jungen misshandelten, macht ihr zu schaffen. Von den Frauen im Dienste Gottes wurden die Kinder ausgehungert, oft mit Lederriemen geschlagen, regelmäßig vor den anderen gedemütigt, in Schränken eingeschlossen, sie durften kein Spielzeug besitzen.

Baker richtet eine Erzählstimme sowohl an die Nonne, die ihrem Vater heimlich zu essen gab, als auch an sich selbst, bei der Einnahme von Hormonpräparaten. Ihr sehnlicher Kinderwunsch blieb unerfüllt, die unwillkommene Erkenntnis ihrer Unfruchtbarkeit ließ Baker in ihren dritten Gedichtband waha | mouth einfließen, der 2014 erschien. Eine Cousine brachte auf den Punkt, was Baker mit der Verquickung beider Geschichten in einem Buch umtreibt. Sie erzählte ihr von der Maori-Tradition, ein verstorbenes Kind gemeinsam mit einem älteren Verstorbenen zu beerdigen. So, wie nach dem Ableben der Erwachsene über das Kind wacht, beschützt die eine nun die anderen Geschichte.

Baker hat eine tieftraurige Geschichte aus Neuseeland gebracht

Zum Schreiben und zur Sprache der Maori kam Baker erst, nachdem sie Neuseeland verlassen hatte. Der Liebe wegen schmiss sie ihr Studium der englischen Literatur und lebte in London, Manchester und in Zimbabwe. Dort öffnete ihr die Antiapartheidsaktivistin Norma Kitson die Augen für Kolonialismus und Imperialismus. „Ihre Analysen haben mich politisiert, ich vertrat radikale Ansichten, als ich zurückkam.

Auch deswegen wollte ich mehr über die Geschichte meines Landes lernen.“ Baker studierte Creative Writing und Maori am Institute of Modern Letters der Victoria University in Wellington. Seitdem schreibt und performt sie auf English und Maori, mitunter gleitet sie von einer gesprochenen Zeile in ein Waiata, ein maorisches Lied.

Beim Eröffnungsabend des Poesiefestivals war das ein Trauergesang zum Gedenken an die Toten dieses Landes, wie Baker sagt. In Berlin hat sie vom ersten Tag an Deutsch gelernt. „Wenn wir gegenseitig unsere Sprachen lernen, gehen wir einen wichtigen Schritt zum Abbau von Vorurteilen und Rassismus. Daran glaube ich, gegen jede Ignoranz und Borniertheit. Das ist das Feuer der maorischen Sprache in meinem Bauch.“

Hinemoana Baker: „waha | mouth“. Victoria University Press, Wellington 2014

Gedichte von Hinemoana Baker: lyrikline.org

10. September, 19.30 Uhr, ­Poetry Night II, Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23

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