Wer ist hier Palästinenser? Jugendbegegnung in Nazareth Foto: Alke Wierth

Bei uns in Palästina

HEIMATen Junge BerlinerInnen reisen erstmals nach Israel und Palästina. Dabei gerät nicht nur ihre zumeist vage Vorstellung von der einstigen Heimat ihrer Großeltern ins Wanken. Es wird ein Trip zur Selbsterfahrung

von Alke Wierth

Farkha, 6.30 Uhr, ein heißer Morgen im August: Die Frisur sitzt. Sorgfältig haben Seinab, Manal, Fatema und Schirin Wimpern gebogen und getuscht, Lidstriche gezogen, Augen und Wangen mit Rouge und Aufheller konturiert, mit Extensions mehr Volumen in ihre Haare gebracht. Nun geht es – nein, nicht auf den Laufsteg und nicht in die Shopping-Mall. Die gibt es in dem Dorf im Westjordanland gar nicht. Es geht auf den Friedhof: Unkraut jäten ist angesagt.

In Farkha, 40 Kilometer östlich von Tel Aviv und nördlich von Ramallah, der Hauptstadt des palästinensischen Autonomiegebiets, findet seit über 20 Jahren jeden Sommer ein Jugendfestival statt. Neben Workshops zu Geschichte und Kultur der Palästinenser gehört dazu ehrenamtliche Arbeit: Vier Stunden täglich helfen die TeilnehmerInnen, vor allem palästinensische Jugendliche, aber auch Ausländer, den 1.300 DorfbewohnerInnen bei der Arbeit.

Die Regeln sind streng: Arbeits- und Essenszeiten sind einzuhalten, Alkohol und Drogen tabu, Müll muss beseitigt werden, Hilfe bei Essensverteilung oder Aufräumen ist Pflicht. Mädchen und Jungen arbeiten zusammen, sind aber getrennt untergebracht – unter spartanischen Bedingungen: Die Jungen schlafen in der Dorfschule, die Mädchen auf Matratzen in Dorfhäusern. Duschwasser ist Glückssache, wer ein sauberes Klo will, muss selbst putzen.

Ungewohnte Bedingungen für die vier jungen Berlinerinnen und ihre männlichen Mitreisenden Nemr, Siad, Omar und Mohamad, den alle Hamoudi nennen. Sein Urteil bei der Ankunft war knapp: „Ist wie Knast hier.“ Doch am nächsten Tag ist es Hamoudi, der unermüdlich und fast ohne Pause bei Temperaturen um die 40 Grad dem Sonnendach auf dem Friedhof von Farkha einen neuen Anstrich verpasst.

Omar und Nemr, mit verspiegelten Sonnenbrillen und Basecaps, Nike-Shorts und Boss-T-Shirts ganz im Neukölln-Look, hacken den trockenen Boden des noch ungenutzten Friedhofgeländes auf, während Siad Saeb auf den Schultern balanciert: Denn Leitern für die Malerarbeiten an den höheren Teilen des Sonnendachs gibt es nicht. Gut, dass die Neuköllner Jungs viel trainieren. Und Manal kommen beim Unkrautjäten die langen, künstlichen Fingernägel zugute, die sie sich extra für die Reise hat machen lassen.

Grete Erckmann und Josef Soueidan, StreetworkerInnen der Mobilen Jugendarbeit beim Projekt Outreach der gemeinnützigen Berliner Gesellschaft für sozial-kulturelle Arbeit, haben die acht jungen BerlinerInnen nach Palästina gebracht. Bis auf die kurdischstämmige Seinab kommen alle aus palästinensischen Familien, die in den Achtzigerjahren als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Ihre Eltern wuchsen in Flüchtlingslagern im Libanon auf. Manal, Schirin und die anderen, 17 bis 23 Jahre alt, sind gebürtige Berliner. Palästina ist das Land ihrer Großeltern.

Heimat, das ist für sie ein Wort mit Stacheln. „Klar, ich bin in Berlin zu Hause“, sagt etwa Omar: „Aber für die Leute da bleibe ich doch immer der ‚Deutsche mit Migrationshintergrund‘.“ Schirin, 21, angehende Erzieherin, sagt: „Mein Herz ist deutsch. Aber mein Blut ist palästinensisch.“ Wichtig war, auf der ersten Station der Reise in Jerusalem, arabisch al-Quds, Palästina-Souvenirs zu kaufen: Ketten, T-Shirts, Palästinensertücher: Insignien, Beweise ihrer palästinensischen Identität.

„Mein Herz ist deutsch. Aber mein Blut ist palästinensisch“

Schirin, 21 Jahre

Wie ist es, eine Heimat zu haben, die nur in der Erinnerung der Großeltern besteht, in Bildern arabischer Fernsehkanäle, die Krieg und Gewalt zeigen? „Die Jugendlichen sollen sehen, wie die Menschen heute hier leben, in den Autonomiegebieten und in Israel, wie Juden und Palästinenser zusammenleben oder auch nicht, Konflikte austragen und versuchen, ihre Gesellschaft und Zukunft aufbauen.“ So formulieren Erckmann und Soueidan die Idee, die sie veranlasste, die Jugendreise zu organisieren, die ein Austausch sein wird: Ende August kommen 16 Jugendliche aus Israel und Westjordanland zum Gegenbesuch nach Berlin.

Seit zehn Jahren macht Outreach bereits einen Jugendaustausch mit Israel, bei dem jüdische Jugendliche mit Jugendlichen überwiegend aus Neukölln und Altglienicke zusammenkommen. „Aber die Familien vieler Jugendlicher, mit denen wir arbeiten, sind palästinensischer Herkunft“, sagt Erckmann. „Weil sie selbst in Berlin geboren und aufgewachsen sind, haben sie oft nur sehr vage Vorstellungen 'von ihrer Heimat Palästina.“ Sie sollen in diesem Austausch die Gelegenheit bekommen, möglichst viele Facetten vom palästinensischen Leben, den Menschen, dem Alltag, den Schwierigkeiten und Hoffnungen der Menschen in Israel und Westjordanland kennenzulernen.

Denn die Grundlagen, auf denen die jungen DeutschpalästinenserInnen ihre Heimatgefühle aufbauen – und die sich im Zuge der Reise auf verschiedene Weise immer wieder zeigen – sind weder schön noch eine stabile Basis. Sie lassen sich knapp so zusammenfassen: „Weil es Israel gibt, haben wir unsere Heimat verloren.“ Und: „Die Deutschen mögen und wollen uns eigentlich auch nicht.“

Nirgendwo richtig zu Hause sein, zwischen den Stühlen einen Platz für sich selbst suchen: Standardfloskeln in deutschen Debatten über Einwanderer und Integration. Was sie praktisch bedeuten, macht die Reise mit den jungen BerlinerInnen sichtbar. Etwa in ihrer teils enormen Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft: Dem Aufenthalt in Farkha war eine einwöchige Reise durch Jerusalem und Nazareth vorausgegangen. Im religiös geprägten palästinensischen Teil Jerusalems war Religion ein großes Thema der Gruppe – durchaus nicht konfliktfrei. Dürfen Jungen mehr bestimmen als Mädchen? In den Debatten darüber vermischen sich typische Konflikte jugendlicher Reisegruppen mit Vorstellungen aus dem Islam.

Am Ende wurde gemeinsam beschlossen, die Weiterreise ins nördliche Nazareth um einen Tag aufzuschieben: Die Gelegenheit, am Freitagsgebet in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg teilzunehmen, wollte keineR verpassen: „Das ist bei uns Pflicht!“ Die einhellige Überzeugung versöhnt die Gruppe.

Die Hände von Nemr nach dem ersten Arbeitstag in Farkha Foto: Alke Wirth

Im palästinensisch bewohnten Alt-Nazareth erleben die TeilnehmerInnen dann ein anderes Alltagslebens. Die GastgeberInnen der palästinensischen Jugendeinrichtung, die sie aufnimmt, pfeifen auf Geschlechtertrennung: Party ist angesagt – und die BerlinerInnen mittendrin. Von Religion ist nicht mehr die Rede. „Es ist sicher nicht das, was sie erwartet und gesucht haben“, sagt Erckmann. „Aber das Leben der Palästinenser ist eben auch sehr vielfältig und nicht nur konservativ und starr.“

In Farkha treffen die jungen DeutschpalästinenserInnen auf Gleichaltrige unterschiedlichster Lebensstile: Kopftuch tragende junge Frauen aus Jerusalem oder Dschenin, angehende PhysikerInnen und JournalistInnen aus Nablus und Ramallah, junge Bauern aus dem Dorf – die alle ihre Ferien damit verbringen, sich ehrenamtlich für ihr Land zu engagieren.

Dass die jungen BerlinerInnen trotz der ungewohnten Lebensbedingungen, ohne zu zögern, alles mitmachen, freut die Sozialarbeiter Erckmann und Souidan; ihre Idee ist aufgegangen. „Unsere Eltern und Großeltern haben schließlich so gelebt“, sagt Omar. „Da können wir das wohl eine Woche lang auch mal machen.“ Und noch eine neue Erfahrung machen die Jugendlichen: Im Camp sind sie „die Deutschen“: willkommen, akzeptiert, aber doch anders als die anderen.

Bei einem Gespräch in Farkha, erinnert sich Omar nach der Rückkehr in Berlin, habe ihm ein Mann gesagt: „Es kommt nicht darauf an, was du bist, sondern was du machst.“ Und auch Siad hat die Reise nachdenklich gemacht: „Wenn du dort nicht für dein Leben arbeitest“, sagt der 19-Jährige, „bist du ein toter Mann. Und wir haben hier so viele Chancen – und nutzen sie nicht.“