Wir müssen uns nicht selbst infrage stellen

FÜNF JAHRE DANACH Im Juli 2011 ermordete Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen. Soziologen und Pädagogen kritisieren heute, dass man sich viel zu wenig mit Breiviks politischen Motiven befasse. Stattdessen dominiert die These vom verrückten Einzeltäter

Breivik sei eben ­gerade nicht als „das Böse“ vom Himmel gefallen, sagt die schwedische Sozio­login Mia Eriksson

Der Staub der Autobombe, die am 22. Juli 2011 Teile des Regierungsviertels in Oslo in Ruinen verwandelte, hatte sich kaum gelegt, als Terrorexperten schon Bescheid wussten. Überzeugend konnten sie erklären, in welchem Umfeld sich der oder die vermutlich islamistischen Täter wohl radikalisiert hatten und warum Norwegen folglich Ziel eines Al-Qaida-Terroranschlags geworden sei. Als sich der nach dem anschließenden Massaker auf der Insel Utøya festgenommene Anders Behring Breivik, der 31-Jährige, von dem sich offenbar auch der Münchner Attentäter David S. inspirieren ließ, als blonder christlicher Norweger herausstellte, hielten viele Medien nicht einmal mehr das Wort „Terrorist“ für angebracht.

Aus dem Mörder von 77 Menschen wurde in Rekordzeit ein verrückter Einzeltäter, konstatierte der schwedische Religionshistoriker Mattias Gardell schon vier Tage nach den Anschlägen: „Losgekoppelt von der Umwelt, dessen Produkt er ist.“ Ein gefährliches Versäumnis, das sich seither eher weiter gefestigt hat, meint Kerstin von Brömssen. Zusammen mit norwegischen und schwedischen ForscherkollegInnen hat die Pädagogikprofessorin an der Hochschule Trollhättan mehrere tausend Texte analysiert, die in den fünf Jahren seit den Terrortaten erschienen sind. Das Fazit: „Gerade mit Breiviks politischen Motiven befassen sich erstaunlich wenige.“

Die Mehrheit versuche vielmehr ein persönliches Anderssein des Terroristen aufzuspüren. Man bezieht sich da unter anderem auf eine unglückliche Kindheit, eine latente Homosexualität oder die Promiskui­tät seiner Mutter. In Åsne Seierstads Buch „Einer von uns“ wird er schon als Fötus als abnorm beschrieben. Seine Mutter habe er vom ersten Tritt in den Bauch an verletzen wollen, meint auch der Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Da ist einer, der beruflich und in seinen privaten Beziehungen scheitert, deshalb ein lächerlicher Sonderling wird, der sich in der Welt der Erwachsenen nicht zurechtfindet und plötzlich zurück in sein Kinderzimmer zieht. Der dort seine Faszination für Kreuzritter auslebt, ein wirres wie apokalyptisches Weltbild entwickelt und selbst geschneiderte Uniformen entwirft. Den dann ein Tötungsverlangen übermannt, das ihn plötzlich zum Massenmörder macht.

Anders als einen islamistischen Gewalttäter, den man immer als Teil eines Ganzen und ganz selbstverständlich in einem gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Zusammenhang sehe, stecke man einen Breivik in die Schublade „einsamer Wolf“. „Ihn glaubt man begreiflicher machen zu können, indem man versucht Details zu finden, die nicht mit einem bestimmten Muster übereinstimmen und die mit Vorstellungen über das ‚typisch Norwegische‘ kontrastierten“, schreibt die Soziologin Mia Eriksson in ihrer im Frühjahr erschienen Abhandlung „Berättelser om Breivik“ („Erzählungen über Breivik“): „Sein Platz in der Geschichte ist der des nahezu karikaturhaften Antagonisten.“

Das Resultat, so Eriksson: Mit so einem haben wir alle nichts zu tun, mit seinen Gedankengängen brauchen wir uns nicht auseinanderzusetzen. So einer werde ungefährlich, sobald er erst einmal hinter schwedischen Gardinen oder den Türen einer psychiatrischen Anstalt weggesperrt worden sei. „Alles ein isoliertes Ereignis, wir müssen uns selbst nicht infrage stellen.“

Tatsächlich sei Breivik aber eben gerade nicht als „das Böse“ vom Himmel gefallen. „Er ist das Produkt einer Gesellschaft und muss einem breiteren Kontext zugeordnet werden“, betont Eriksson: „Wir müssen darüber reden, warum diese Art von Gewalt geschieht und wie diese mit einer nationalistischen und rechtsextremen Tradition in Norwegen und Europa zusammenhängt“, die ihrerseits wieder nur Teil einer wachsenden faschistischen Szene sei.

„Wenn Terror zu Tode geschwiegen wird“, überschrieb eine norwegische Pädagogikzeitschrift eine andere Untersuchung zur Aufarbeitung der Breivik-Taten. Ihr Fazit: Der 22. Juli sei in Schulen entweder ganz tabu oder werde völlig entpolitisiert. „Gleichzeitig begegnen Jugendlichen täglich im Internet den Botschaften, mit denen Breivik radikalisiert wurde und die die seinen wurden“, warnt Kerstin von Brömssen: Angesichts dessen und vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Landschaft in Europa sei es unverzichtbar, diese Zusammenhänge aufzudecken. Ansonsten könnten der Hass und die Konspirationstheorien eines Breivik ungestört weiterleben. Und Nachahmer inspirieren. Reinhard Wolff