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Keine Insel der Glückseligen

Schlagloch von Hilal Sezgin Wir brauchen globale Verantwortung – nicht nur in finanzieller Hinsicht

Foto: Ilona Habben
Hilal Sezgin

geboren 1970, lebt als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt erschien von ihr in Buchform: „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen“, Verlag C.H.Beck 2014.

Eben war unser Bürgermeister mit dem Trecker hier. Er ist Landwirt und brachte frisch gepresstes Stroh. Seit Tagen ernten große Landmaschinen das Getreide; verwirbeln trockene Erde zu Staubwolken, sodass man aus der Ferne meinen könnte, es brennt. Doch bei uns brennt nichts. Im Gegenteil, wir sind reich beschenkt. Äpfel, Pflaumen und Beeren reifen in Überfülle, die Äste der Bäume neigen sich tief.

Trotzdem verfielen der Bürgermeister und ich kurz ins übliche Jammern: wie viel Ernte der Regen der Vormonate vernichtet hatte. Schwankende Einkünfte als Landwirt beziehungsweise als freie Autorin. Kein Urlaub. Dann fielen uns die Bilder aus Aleppo ein. Verwundete Kinder; Männer, die leblose Körper aus Schutthaufen bergen. Er schüttelte alles, was wir vorher beklagt hatten, mit einem Nicken ab und sagte: „Wir leben hier doch auf der Insel der Glückseligen.“

Leise Schuldgefühle

Ich musste an Astrid Lindgrens Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945 denken, erschienen 2015 im Ullstein Verlag. Darin wechseln sich Nachrichten zum Krieg und zu Deutschland mit Eindrücken aus dem Alltag mit Lindgrens Tochter ab. Auch ihrer Verwunderung über diese Gleichzeitigkeit von „Großem“ und „Kleinen“, von Schönen und Schrecklichem verleiht Lindgren dabei Ausdruck, und gelegentlich mischt sich ein leises Schuldgefühl in diese Verwunderung: Darf ich mich mit solchem Klein-Klein befassen, während ein Krieg tobt? Ja. Und dennoch …

Viele von uns in Westeuropa sind mit einem noch manifesteren Schuldgefühl aufgewachsen: dass nämlich unser Glück nicht nur parallel zum Unglück anderer besteht, sondern dieses zum Teil gar bedingt. Globalisierungskritische Reportagen bekräftigen dies stets aufs Neue: Preiswerte Mode? Eingesperrte Näherinnen. Überall Internet? Sklavereiähnliche Minenarbeit für unsere Smartphones. Lecker Schokolade? Kinder schleppen Kakaobohnensäcke. Selbst an den Kriegen der Welt sind wir nicht unbeteiligt, immerhin schießen auf beiden Seiten europäische Waffen.

Ich will nun nicht darauf hinaus, dass wir noch mehr Schuldgefühle entwickeln sollten, die uns schließlich handlungs- und glücksunfähig machen. Denn natürlich ist es völlig in Ordnung, die friedlichen Zustände auf der Insel der Glückseligen zu genießen, während anderswo ein Bürgerkrieg tobt. Das ginge ja gar nicht, wenn sich jeder einzelne Mensch dann erst freuen dürfte, wenn auch alle übrigen sieben Milliarden gesund und glücklich sind.

Das vermeintlich Abstrakte

Aber das Umgekehrte geht eben auch nicht: auf der eigenen Insel vor sich hin zu leben, als ob man nicht wüsste, wie groß die Welt ist – und wie eng verbunden unsere Geschicke tatsächlich sind. Der junge Berliner Philosoph ­Valentin Beck hat über dieses Problem seine Dissertation geschrieben („Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden“, Suhrkamp Verlag 2016), in der mich vor allem ein Gedankengang beeindruckt hat.

Üblicherweise, so Beck, teilen wir unsere moralischen Pflichten in zwei Kategorien ein: Den „besonderen“ Anderen in unserer Nähe, etwa Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn, widmen wir viel Sorgfalt und Hilfe. In der Ferne wiederum existieren „abstrakte“ Andere – Menschen ganz allgemein, die wir nicht kennen. Wir dürfen ihnen zwar nicht direkt Schaden antun, aber ansonsten haben wir mit ihnen – so glauben wir – eigentlich nicht viel zu tun.

Und das ist ein Irrtum, meint Beck. Denn tatsächlich sind wir auch mit diesen fernen Anderen verbunden. Die Häupter unserer Regierungen schließen Abkommen, Wirtschaftsunternehmen agieren hier wie dort. Täglich fliegen Menschen um die Welt und weben uns mit Geschäften, Ideen und Taten eng zusammen.

Die mir unbekannte Näherin in Fernost näht meine Hose. Irgendein Kind trägt meinen Kakao. Auch sie sind ganz konkrete Menschen, und es gibt Gegenstände in meinem Haushalt, die von unser beider Hände berührt wurden.

Früher hat man über globale Ethik vor allem in monetärer Hinsicht nachgedacht. „Ich verdiene viel mehr als Menschen anderswo, aber davon kann ich viel abgeben“, sagte eine Lehrerin zu mir. Der Utilitarist Peter Singer argumentierte bereits in den 1970er Jahren, wir Bessergestellten der Welt seien auch zur privaten Umverteilung verpflichtet. Dies ist sicher nicht ganz falsch – aber auch nicht ganz richtig, denn es geht bei Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht nur ums Geld. Der Begriff „Verantwortung“ bedeutet mehr. Er rückt viel grundsätzlicher in den Fokus, wie wir uns zu den Anderen in Beziehung setzen, ob wir sie nun persönlich kennen oder nicht.

Wir gehören zusammen

„Kein Mensch ist eine Insel, in sich ganz […]. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit“, schrieb der englische Dichter John Donne vor vier Jahrhunderten. Ich möchte hinzufügen: Für die anderen empfindungsfähigen Mitbewohner dieser Welt, all die nichtmenschlichen Tiere, gilt Ähnliches. Wir leben hier zusammen. Wir gehören zusammen.

Als ob sich Glück isolieren und konservieren ließe, abgeschottet von der übrigen Welt

Gerade jetzt, wo die Welt an so vielen Ecken und Enden brennt, ist die Versuchung natürlich groß, es doch noch mal mit so einer Insel zu versuchen. Aber dieser Tagtraum ist nicht nur unethisch, sondern auch unzutreffend, verrückt, falsch. Als ob sich Glück isolieren und konservieren ließe, mit Scheuklappen und Lärmschutz, zwischen Mauern, abgeschottet von der übrigen Welt.

Wir müssen unsere Ernte einbringen – und anklagen, dass so viele Menschen anderswo ihre Ernte nicht verzehren können, weil sie von reicheren Ländern aufgekauft wird. Wir dürfen über unsere Sommer stöhnen, aber diejenigen nicht vergessen, die vom Klimawandel bereits viel stärker betroffen sind.

Wir sollten nicht nur dieses oder jenes Detail der Flüchtlingspolitik kritisieren, sondern daran erinnern, dass es bereits ein Verbrechen ist, wenn ein Teil der Menschheit einem anderen Teil die Bedingungen für Überleben und Tod diktiert.

Wir müssen endlich beginnen mit dem Umbau der gemeinsamen Welt.

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