Die Flucht vor den Krauts

URGESTEIN Wenn einem jemand etwas über die oft missverstandene Ära des Krautrock erzählen kann,
so ist es der Avantgardemusiker und Autor Wolfgang Seidel. Unser Autor traf ihn zum Gespräch

Wolfgang Seidel am Kottbusser Tor, 2016 Foto: David Oliveira

von Andreas Hartmann

Jeder, egal ob links oder nicht, kennt „Macht kaputt was euch kaputt macht“, diesen Polit-Schlager der Ton Steine Scherben. Am Schlagzeug bei dem Song zu hören: Wolfgang Seidel. Der spielte auch noch das Debütalbum der Scherben Anfang der Siebziger mit ein, dann reichte es ihm jedoch schon wieder mit dieser Band, die ihm rein musikalisch mit ihrem doch eher rumpeligen Rock ganz einfach zu unambitioniert war.

Seidel, heute 67 Jahre alt, begeisterte sich zu der Zeit viel eher für die radikale Klang­avantgarde des Krautrockpioniers Conrad Schnitzler und gründete mit diesem dann auch das Projekt Eruption. Gleichzeitig stieg er bei den Scherben aus. In deren berühmter Kommune in Fresenhagen war er nie ganz angekommen.

Seidel hat nie mit Wehmut zurückgeblickt und seinen frühen Ausstieg bei den Scherben, noch vor der Heiligsprechung Rio Reisers, nie bedauert, obwohl die dann ohne ihn zu einer der bekanntesten Bands der Republik werden sollte. Ganz losgekommen ist er von diesem Teil seiner Vergangenheit freilich auch nicht. Als Publizist setzte er sich immer wieder kritisch mit dem Treiben rund um das Erbe der Mitte der Achtziger aufgelösten Scherben auseinander, beklagte sich darüber, dass jeder mit dem guten Namen der Band Geld machen wollte und einstige Ideale verraten werden. Er griff dabei auch Claudia Roth an, die bis heute jedem erzählt, wie es so war, als sie einmal Managerin der Band war.

Einerseits Ton Steine Scherben, eine zutiefst deutsche und von den bundesrepublikanischen Verhältnissen der Siebziger geprägte Band, die im Ausland niemand kennt, andererseits experimenteller Krautrock, lange unverstanden im eigenen Land und vor allem im Ausland geschätzt: Dieser Bruch in seiner Biografie, so sagt Seidel, ein redseliger Herr, der inzwischen als Grafiker beim Fernsehen arbeitet und nebenbei in verschiedene musikalische Projekte involviert ist, habe zu einer „klaren Trennung“ in der Wahrnehmung seiner Person geführt. „Für die Deutschen bin ich immer noch der Schlagzeuger der Scherben“, sagt er, „im Ausland dagegen interessiert man sich für mich wegen meiner Bekanntschaft mit Conrad Schnitzler.“

Über sein eines Lebensthema, alles rund um die Scherben, hat er bereits ein Buch geschrieben, nun widmet er sich der anderen Sache, die ihn zeit seines Lebens nicht mehr loslassen wird: dem Krautrock. Und wie schon seine Scherben-Aufarbeitung ist auch sein Werk über „Krautrock, Free Beat, Reeducation“, mit dem Titel „Wir müssen hier raus!“ (Ventil Verlag, 136 Seiten, 14 Euro), der dann doch wieder auf einen Scherben-Song rekurriert, eine kritische Auseinandersetzung mit seinem inhaltlichen Gegenstand geworden.

Die Wiedergeburt Deutschlandsim Krautrock –echt jetzt?

So wie er irgendwann das Gefühl hatte, er müsse so einiges in der öffentlichen Betrachtung der Ton Steine Scherben korrigieren, möchte er nun Missverständnisse ausräumen, die er in den anhaltenden Debatten rund um Krautrock entdeckt haben will. Das Gefühl, dass da etwas nicht ganz richtig läuft, bekam er, so erzählt er in seinem Stammladen, dem Südblock Kreuzberg, als er von der englischen BBC eine Anfrage zur Mitarbeit erhielt für eine Dokumentation mit dem Titel „Krautrock: The Rebirth of Germany“.

Die Wiedergeburt Deutschlands im Krautrock, echt jetzt? Als dann der englische Musikjournalist David Stubbs seinem Buch über diese mehr als 40 Jahre alte seltsame Musik aus Deutschland den Untertitel „The Building of modern Germany“ beistellte, war ihm endgültig klar, dass es Zeit war für eine Intervention, für seine Intervention. Er, links und antinational, seit er denken kann, redet sich geradezu in Rage, wenn er erklären soll, warum seiner Ansicht nach die Freaks und Späthippies, die auf dem Land und in den Städten in den Siebzigern angloamerikanische Beatmusik und Bluesrock erst adaptierten und dann in diese verstrahlte Musik transformierten, die man irgendwann Krautrock nennen sollte, an alles dachten, aber nicht daran, im musikalischen Sinne einer bestimmten Identität Deutschlands zuzuarbeiten. „Das war das Letzte, was die Musiker damals im Sinn hatten“, erklärt Seidel.

Beatles, Stones, Pink Floyd, The Doors, die einzige interessante Popmusik kam in den Sechzigern und Siebzigern bestimmt nicht von hier, diese Meinung war lange Konsens in Deutschland. Doch seit einer ganzen Weile nun werden in Japan und in den USA kuriose deutsche Bands wie Amon Düül und Popol Vuh verehrt, alle lieben Kraftwerk, und jede zweite Band aus New York behauptet, obskure kosmische Musik aus dem Deutschland der frühen Siebziger zu lieben. Und seitdem, so glaubt Seidel, ist ein großes Missverständnis in der Welt: Die Krautrocker, die, so Seidel im Gespräch, mit ihren „endlosen Bongosessions und Sitar-Klängen“ eigentlich allem entfliehen wollten, für was Deutschland stand, repräsentieren jetzt Deutschland wie die Scorpions und Rammstein. So, wie er die Scherben Claudia Roth wieder entreißen wollte, will Seidel nun den Krautrock wieder von Deutschland befreien.