Der Gastronom Guan Guanfeng kocht in Berlin chinesisches Essen, seit er 15 Jahre alt ist. Heute ist er Chef in fünf Restaurants, wo es Rhabarber zum Tintenfisch und Dumplings zum Selberbauen gibt. Seine Mission: die chinesische Küche öffnen. Und sie so beliebt machen, wie sie es verdient. Ein Gespräch in seinem neuen Restaurant Roy & Pris
: „In China macht Essen glücklich. Das ist wie eine Religion“

Gastronom Guan Guanfeng in seinem Restaurant Roy & Pris: „Wenn ich tagsüber unterwegs war und erst am späten Abend an einem meiner Restaurants vorbeigehe, spüre ich sofort, wie viel Umsatz wir gemacht haben. Es liegt in der Luft“

Interview Susanne Messmer
Fotos Julia Baier

taz: Herr Guanfeng, haben Sie schon gegessen?

Guan Guanfeng: Ja, ja. Habe ich.

Was gab es?

Rindergulasch mit weißem Rettich, dazu Sepiakopf mit eingelegtem Gemüse und Bohnen mit Hackfleisch. Und eine Suppe.

Haben Sie hier in Ihrem neuen Restaurant gegessen?

Nein, zu Hause.

Wer hat gekocht?

Ich habe gekocht. Wenn ich koche, dann ordentlich. Mit mindestens vier Gängen. Das ist bei mir so vorprogrammiert, ich kann gar nicht anders.

Kochen Sie zu Hause anders als im Restaurant?

Ich koche einfacher. Immer mit Ingwer, Knoblauch und Lauchzwiebeln. Und ich koche ausschließlich die regionale Küche der südchinesischen Heimatprovinz von meiner Frau und mir.

Die da wäre?

Zhejiang.

Zhejiang liegt südlich von Schanghai, an der Küste. Richtig?

Richtig. Es gibt dort viel frischen Fisch und Fischprodukte. Wir mögen auch rohe Krabben.

Frischen Fisch in Berlin zu kaufen ist eine Herausforderung.

Das stimmt. Hinzu kommt, dass die Deutschen völlig andere Vorstellungen von Fisch haben. Die Chinesen mögen ihren Fisch mit Gräten. So bleibt der Fisch wesentlich zarter als im Filet. Das finden die Deutschen meist völlig inakzeptabel.

Wie würden Sie die Küche in Ihren Restaurants bezeichnen? Ist sie moderner als die traditionelle chinesische Küche, die Sie zu Hause kochen?

Ich kann das gar nicht so sagen. Ehrlich gesagt koche ich einfach nur, was mir gefällt.

Werfen wir mal einen Blick in Ihre Karte. Gedämpftes Brot mit süß geschmortem Schweinebauch an dunkler Sojasauce mit Erdnüssen, das hört sich gut an.

Wollen Sie mal probieren?

Darf ich?

Ich bestelle mal eine Portion (winkt die Kellnerin heran).

Mir fällt auch der Oktopussalat mit gedämpften Radieschen und Rhabarber auf. Rhabarber wird doch in China gar nicht angebaut, oder?

Wollen Sie auch probieren?

Nein, vielen Dank, ein Gericht reicht erst einmal. Aber sagen Sie: Warum in alles in der Welt ausgerechnet Rhabarber?

Ich fand Rhabarber, wie ihn die Deutschen essen, immer schrecklich. Besonders im Kuchen. Aber dann habe ich angefangen, mit der Idee zu spielen. Rhabarber ist interessant. Er ist frisch, und er ist süßsauer.

Passt er deshalb zu Fisch?

Zu Meeresfrüchten passt immer ein dominantes Gemüse. Daher kommt Tintenfisch nicht nur in China, sondern auch in Italien oft mit Bleichsellerie auf den Tisch. Rhabarber ist ähnlich dominant wie Sellerie, aber nicht salzig. Tintenfisch braucht aber Salz. Also servieren wir ergänzend zum Rhabarber salzigen, eingelegten Rettich. So wird das Gericht harmonisch.

Da kommt ja mein Essen, der Schweinebauch. Sieht aus wie die gefüllten Hefebrötchen, wie man sie in China auf der Straße isst.

Ja, Baozi. Nur, dass das Brot hier nicht mit dem Fleisch gefüllt ist. Der Gast baut es sich selbst zum Sandwich zusammen.

Wie unterscheiden sich deutsche von chinesischen Essgewohnheiten?

Guan Guanfeng

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Der Mensch: Guan Guanfeng, genannt Afon, geboren 1971 in China, ging 1987 im Alter von 15 Jahren nach Berlin und kam anfangs kaum aus der Küche des chinesischen Restaurants seiner Tante in Tegel heraus. 1996 eröffnete er seinen ersten Laden in Steglitz, den er bald wieder schloss, um auf Reisen zu gehen, sich in der Stadt herumzutreiben und Deutsche kennenzulernen. Heute ist er Chef von fünf der interessantesten chinesischen Restaurants dieser Stadt.

Restaurant I: 2006 eröffnete Guan Guanfeng sein erstes Restaurant, das noch immer existiert: Das Toca Rouge in der Torstraße 195. Stil: Bar-Atmos­phäre. Essen: Fusion (ein Mix der Küchen). Tipp: Ali-Cheng, als Kotelett geschnittenes Lammkarree in pikanter Marinade mit Gemüse und Thai-Basilikum. Kostenpunkt: 16 Euro; es gibt auch Hauptgerichte für 9,90 Euro.

Restaurant II und III: 2008 eröffnete Guan Guanfeng die ­beiden Filialen des Restaurants Yumcha Heroes in der Duncker­straße 60 und im Weinbergs­weg 8. Stil: gemütlich. Essen: Dumplings, also gekochte und gedämpfte Teigtaschen. Tipp: Black Beef Soup mit Rindfleisch-Dumplings, Pak Choi, Essig und Chili-Öl. Kostenpunkt: 5,80 Euro, es braucht allerdings mehr, um satt zu werden.

Restaurant IV: 2011 eröffnete Guan Guanfeng die Long March Canteen in der Wrangelstraße 20. Stil: chinesische Propagandakunst an den Wänden, Kellnerinnen kommen mit Servierwagen an die Tische. Essen: moderne Dim Sum, also kleine, gedämpfte oder frittierte Gerichte, die aus der kantonesischen Küche stammen. Tipp: marinierte Hähnchenspieße mit Wasserkastanie, Lauch und Limetten-Honig-Sauce. Kostenpunkt: 9,50 Euro. Am besten geht man hier in der Gruppe hin, bestellt mehr als drei Dim Sum pro Person, und alle essen von allen Tellern.

Restaurant V: 2016 eröffnete Guan Guanfeng das Roy & Pris im Weinbergsweg 8A, sein bisher coolstes Restaurant. (sm)

Chinesisches Essen hat viel mit Freude zu tun. Die Atmosphäre ist entscheidend. Außerdem gibt es keine Regeln. Jedes einfache Mittagessen kann ein Fest sein. Deshalb fragen die Chinesen nicht: „Wie geht es dir?“ Sondern: „Hast du schon gegessen?“

Wird das Essen in China als wichtiger empfunden als hier?

Es ist anders. In Deutschland ist es wichtiger, dass man sich beim Restaurantbesuch gut anzieht. Man zeigt, wer man ist. In China ist das alles beim Essen egal. In China muss im Restaurant dicke Luft sein. Es muss laut und ungezwungen sein.

Ist es das, was Sie in Ihren Restaurants den Deutschen zeigen wollen?

Ich denke schon.

Wie haben Sie das geschafft?

Ich bin 1987 mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen. Ohne meine Eltern. Ich habe am Tag nach meiner Ankunft begonnen, in einem der ersten chinesischen Restaurants in Berlin zu arbeiten, im Restaurant meiner Tante in Tegel. Ohne Deutschkenntnisse. Erst vier Jahre später habe ich Deutsch gelernt, denn ich durfte in Berlin nicht mehr zur Schule gehen. Ich war schon zu alt für die Hauptschule und zu schlecht für die Mittlere Reife.

War das ein Problem für Sie? Ich habe eine Chance verloren. Das war bitter für mich. Ich musste meinen Töchtern immer sagen, dass sie in der Schule allein zurechtkommen müssen, dass wir ihnen nicht viel helfen können. Sie waren trotzdem immer gut in der Schule. Meine ältere Tochter macht gerade Abitur und möchte Medizin studieren. Darauf bin ich sehr stolz.

Und auf sich selbst sind Sie etwa nicht stolz?

Na ja, stolz. Sagen wir es so: Ohne Schulabschluss musste ich noch mehr Gas geben. Ich musste lernen, die Leute zu beobachten: ihre Augen, ihre Körpersprache. Ich musste versuchen, sich auch ohne Sprache zu verstehen, sie zu respektieren und auch von ihnen respektiert zu werden. Heute liegt mir die Gastronomie regelrecht im Blut. Wenn ich tagsüber unterwegs war und erst am späten Abend an einem meiner Restaurants vorbeigehe, spüre ich sofort, wie viel Umsatz wir gemacht haben. Es liegt in der Luft. Ich sehe es an den Gesichtern der Mitarbeiter.

Wie gefiel Ihnen Berlin Ende der 1980er Jahre?

Ich habe am Anfang wenig mitbekommen. Ich hatte einen Kulturschock. Gleich in der ersten Woche nach meiner Ankunft wollten mir meine Cousins etwas ganz Besonderes zeigen. Sie haben mich zu Burger King geschleppt.

Und wie war das?

Ich habe den ersten Bissen nicht runterbekommen. Es war zu viel Fleisch für mich, zu tierisch. Ich bin in den 1970er Jahren in China geboren. Bis dahin hatte ich noch nicht so oft Rindfleisch gegessen. Außerdem ist das Fleisch in China immer klein geschnitten.

War Ihre Familie arm?

In den siebziger Jahren schon. Erst später wurden wir gehobene Mittelklasse.

Wie kann man sich das vorstellen im China der 1980er Jahre?

Mein Vater hat nach der Kulturrevolution in Schanghai gearbeitet, er war Direktor bei einer großen Firma. Ein Jahr lang habe ich mit ihm dort gelebt und bin dort auch zur Schule gegangen. Mein Vater hat damals schon sehr viel Geld verdient. Er konnte sogar auf dem Schwarzmarkt Dollar tauschen. Die brauchte er für die Geschäftsessen im Hilton, dem einzigen Fünfsternehotel in Schanghai damals. Einmal hat er mich für so ein Essen von seinem Chauffeur abholen lassen. In einem schwarzen Citroën DS. Das Auto war aus Japan nach China geschmuggelt worden.

Unglaublich!

Im China der 1980er Jahre gab es solche Autos eigentlich nicht. Im Grunde sah man auf den Straßen gar keine Autos, nur Fahrräder.

Wie haben Sie damals in Schanghai gegessen?

Ich durfte ein paar Mal die echte, verfeinerte Schanghai-Küche probieren. Nicht nur im Hilton, sondern auch im Botschaftsviertel. In sehr guten, winzigen Restaurants mit vier, fünf Tischen, mit weißen Tischdecken und Kellnern, die wie Butler in den 1920er Jahren gekleidet waren.

Das war für damalige Verhältnisse ein Wahnsinnsding, oder?

Mein Vater ist bis heute ein großer Fresser, ein Genussmensch. Also: Das hat mich absolut geprägt. Da muss ich mich wirklich bei ihm bedanken.

Konnten Sie wegen der Privilegien Ihres Vaters auch schon so früh nach Deutschland ausreisen?

„Mein Vater ist bis heute ein großer Fresser. Also: Das hat mich absolut geprägt. Da muss ich mich wirklich bei ihm bedanken“

In den 1980er Jahren war es wirklich noch sehr schwer, einen Pass und ein Visum zu bekommen. Die Regierung wollte die Menschen daran hindern auszureisen. Aber mein Vater kannte Anwälte, Direktoren, hohe Militärs, sogar Minister. Er hat die entscheidende Person mit einem Farbfernseher und einem Fahrrad geschmiert.

Zurück zu Ihren Restaurants. Warum sind sie so anders als andere chinesische Restaurants in dieser Stadt?

Anfang der 1990er, als sich China öffnete, gab es eine große Einwanderungswelle. Damals war China noch arm, viele Chinesen kamen auch illegal. Plötzlich gab es auch in Berlin Chinarestaurants wie Sand am Meer. Aber die meisten Chefs hatten nie Kochen gelernt. Für sie muss das Kochen bis heute vor allem schnell gehen. Sie setzen hundert Gerichte aus zehn chinesischen Provinzen auf die Karte, und manchmal kommen sie selbst aus einer Provinz, deren Küche auf der Karte gar nicht vorkommt. Diese Leute haben einfach überhaupt keine Ideen. Das Einzige, was sie ab und zu ändern: Sie tauschen die alten Lampions gegen moderne aus.

Wie stehen Sie zu diesen Landsleuten von Ihnen?

Die Leute, die in diesen Restaurants angestellt waren, sind sehr wichtig für mich. Sie sind ehrlich gesagt sogar einer der Gründe, warum meine Restaurants so sind, wie sie sind. Denn ich habe viele von ihnen eingestellt. Sie sind heute zu alt, um in den gewöhnlichen Chinarestaurants Arbeit zu finden. Sie sind zu langsam für dieses „zack, zack, zack“, für die schnelle chinesische Garküche. Darum habe ich unsere Küche diesen Leuten ein wenig angepasst. Es geht eher um Handarbeit. Es gibt viel Gekochtes und Gegartes. Bei uns darf alles ein bisschen länger dauern.

Fahren sie noch oft nach China?


Ja, einmal, manchmal zweimal im Jahr.

Um die Familie zu besuchen?

Genau.

Wie gefällt Ihnen China heute?

Ich habe mit 15 zum ersten Mal Hochchinesisch gesprochen. Bis dahin konnte ich nur Wen­zhou sprechen, einen sehr alten, teuflisch komplizierten Dialekt, den wohl nur sechs Millionen Menschen sprechen. Ich fahre bis heute ungern nach Peking, weil sie dort die Sprache der Regierung sprechen. Außerdem: Wenn ich zwei Wochen in China bin, wird mir das Essen dort wahnsinnig langweilig, und ich sehne mich nach italienischem Essen.

Warum denn das?

Ich finde, viele Chinesen, die so alt sind wie ich oder älter, sind gerade sehr konservativ in ihren Essgewohnheiten. Viele nehmen noch immer ihren Reiskocher mit, wenn sie nach Europa reisen. Sie kommen in ein chinesisches Restaurant und wollen nicht einmal die Speisekarte sehen. Sie bestellen ihr Essen, indem sie ewig auf den armen Kellner einreden und sich alles so bestellen, wie sie es gewohnt sind. Die Leute sind nicht offen.

Ist die chinesische Küche nicht eine der feinsten der Welt?

Doch, natürlich.

Warum ist das eigentlich so?

Es gab viele Naturkatastrophen und Hungersnöte, die letzte erst Anfang der 1960er. Man musste erfinderisch sein. Außerdem ist China sehr groß, es gibt viele Regionalküchen, und es gab viel Einwanderung, also Einflüsse von außen. In China macht Essen glücklich. Essen ist wie eine Religion.

Wie äußert sich das?

Ich reise wirklich viel, kürzlich war ich in New York, demnächst muss ich nach Tokio, denn ich will bald noch ein Sushi-Restaurant eröffnen und muss dieses Produkt besser verstehen lernen. Aber bei all meinen Reisen habe ich eines nur in China beobachtet: Die Leute halten überall und jederzeit etwas Essbares in der Hand – im Taxi, Flugzeug, im Zug. Und dabei ist es ganz egal, welcher sozialen Schicht sie angehören. Ich finde das sehr sympathisch.

Guan Guanfeng über seine Ankunft in Berlin:

Meine Cousins schleppten mich in der ersten Woche zu Burger King. Ich bekam das Fleisch nicht runter.

Aber das klingt doch jetzt wieder sehr hoffnungsvoll, oder nicht?

Doch, natürlich. Die jungen Chinesen werden immer offener und neugieriger, auch in Bezug aufs Essen. Einmal habe ich in meinem Restaurant Long March Canteen eine Gruppe chinesischer Studenten beobachtet. Irgendwann hörte ich einen von ihnen sagen: „Scheiße, hier ist es superlecker, aber auch superteuer. Hast du noch Geld dabei?“ Das hat mich sehr gefreut.

Gibt es ein chinesisches Gericht, das Sie in Deutschland einfach nicht so hinbekommen, weil es die Zutaten dafür hier nicht gibt?

Es wird zum Glück immer einfacher. Vor einigen Jahren habe ich immer Bekannte beauftragt, ob sie mir Senfkohl, also Pak Choi, aus Holland mitbringen können. Dann fand ich heraus, dass die vietnamesische Community in Berlin Pak Choi anbaut: an der Grenze zur Tschechien. Heute gibt es Pak Choi überall in den Berliner Supermärkten.

Also wirklich nichts, das Sie vermissen?

Ich erinnere mich gern an die Sommerabende meiner Kindheit. Wenn ich mit meinem Bruder oder den Eltern abends nach dem Kino nach Hause ging. Da kauften wir an der Straßen oft Klebreisklößchen mit einer Füllung aus Sesampaste. Dazu gab es immer Pfefferminzsirup. Den habe ich geliebt! Ich habe immer gehofft, dass der Verkäufer versehentlich zu lang auf seine Flasche drückt. Sehr süß, sehr klebrig, sehr aromatisch. Den gibt es in Deutschland nicht zu kaufen.

Eine letzte Frage: Warum heißt Ihr neuestes Restaurant eigentlich Roy & Pris?

Kennen Sie den Film „Bladerunner“?

Ich erinnere mich dunkel …

Roy und Pris sind die beiden Replikanten aus „Bladerunner“. Ich mag vor allem die Eingangsszene dieses Films. Die Aufnahmen von Los Angeles, wie es vielleicht in der Zukunft aussehen könnte. Düster, dreckig, voll.

Gibt es da nicht eine Szene, die in einer chinesischen Nudelbude spielt?

So ist es. Das hat uns inspiriert.