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Trauer im Netz nach dem Nizza-AnschlagJe Suis Routine

Das Internet setzt die Flagge auf Halbmast. Doch die Trauer nach dem Anschlag von Nizza gleicht einem Algorithmus des Entsetzens.

Wie oft noch werden sich diese Bilder wiederholen? Foto: dpa

BERLIN taz | #NiceAttack. Seit den frühen Morgenstunden glüht dieser Hashtag. Solidaritätsbekundungen, Frankreichflaggen, Links zu Kommentaren und Live-Blogs, die Geschehnisse in Nizza überschlagen sich in einem Schlagwort auf Twitter, das unglücklicher nicht sein könnte. „Einfach pervers“, schreibt ein User. In englischer Lesart könnte es also ein „netter“ Anschlag gewesen sein, bei dem am Donnerstagabend mindestens 83 Menschen getötet wurde. Als würde das kollektive Entsetztsein der Menschen über den Terror ebendiesem Beifall spenden.

Natürlich will das keiner. Der Hashtag #NiceAttack steht mit bitterem Zynismus dafür, wie das Trauern in den sozialen Medien um die Opfer von terroristischen Anschlägen inzwischen zur Routine geworden ist. Pray for Paris, Brüssel, Istanbul, Orlando, Dhaka, Bagdad, und jetzt: Beten für Nizza. Während die Nachrichten sich mit Eilmeldungen über neue Details zum Namen, der Herkunft, dem Stadtteil des mutmaßlichen Täters überbieten wollen, teilen die Menschen Fotos von französischen Nationalflaggen, #PrayforNice hineinmontiert, und es wirkt fast so, als habe der ständig wiederkehrende Terror selbst die Kreativen ermüdet. „Wann hört das endlich auf?“ Dieser Satz fällt nach Nizza immer öfter.

Es hat wenige Stunden gedauert, bis das Video des ARD-Journalisten Richard Gutjahr um die ganze Welt gegangen war. Von einem Balkon aus filmte er den weißen LKW auf der Strandpromenade, den Motorradfahrer, der vergeblich versuchte die Fahrertür zu öffnen. Millionen hörten die Schüsse der Polizisten, als der Attentäter auf das Gaspedal drückte, um in die feiernde Menschenmenge zu rasen.

Auf die schockierenden Bilder folgten die ersten Solidaritätsbekundungen von offizieller Seite: Deutschland stehe im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite Frankreichs, sagte Angela Merkel, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verurteilte den „Terrorakt“, US-Präsident Barack Obama sicherte Frankreich seine Unterstützung bei den Ermittlungen zu. Und AfD-Chefin Frauke Petry ließ natürlich auch diese Gelegenheit für ihre Botschaft #grenzenstattterror nicht aus.

Kraftlose Botschaften

Das Internet setzt seine Flaggen wieder auf Halbmast. Und das Trauerspiel auf Twitter gleicht inzwischen einem Algorithmus des Entsetzens, der für die Aufarbeitung der eigenen Emotionen nicht mehr taugt. Nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo erfand der Grafikdesigner Joachim Roncin den Hashtag #JeSuisCharlie.

Über die sozialen Medien hinaus wurde dieser Spruch zu einem Sinnbild der Anteilnahme, „Ich bin Charlie“ bedeutete, sich mit den Opfern eines Terrors zu solidarisieren, der es nicht auf Einzelne abgesehen hatte, sondern auf unsere freiheitlich-demokratischen Werte. Doch haben diese Botschaften, längst an Kraft verloren. In das Stimmungsbild auf Twitter nach den Anschlägen in Nizza mischt sich mehr und mehr die Lethargie des Sisyphos: „Wir sind Müde. Wir wollen Frieden.“

Auch die Fotos der Grand Central Station in New York, erleuchtet in französischer Trikolore, wirken beinahe schon wie ein trauriges Standardprogramm. Heute Nacht wird die Flagge auf dem Eiffelturm und dem Brandenburger Tor in Berlin zu sehen sein. Erst vor wenigen Wochen waren dort die Regenbogenfarben zu sehen, „We are Orlando“ hieß es da noch.

Im Januar 2016 – kurz nach dem Anschlag in Istanbul – bastelte Tommy Kempert, Mitarbeiter einer Berliner PR-Agentur, einen Hashtag, der den Schock, die Trauer, und vor allem die steigende Wut gegen Terroristen auf den Punkt bringt. Jetzt, nach der Nachricht über die Toten in Nizza, wurde er auf Twitter so oft geteilt wie nie zu vor und richtet sich an den Fahrer des weißen Lkw, aus welchen Gründen er auch immer dieses entsetzliche Grauen über Frankreich gebracht hat: #JeSuisSickOfThisShit.

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1 Kommentar

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  • Die Massenmedien machen es vor. Dieses so hochwillkommene Ereignis für gähnend leere Redaktionsstuben während der Sauregurkenzeit lässt nicht nur auf mehr Profit oder Quote hoffen, was das Ziel jeder Zeitung und jedes Senders ist, sondern auch auf reuige Leser, die längst sich ihre eigene Nachrichtenwelt gebastelt haben.

     

    Was einst das Gütesiegel eines unabhängigen Journalismus war, nämlich die objektive emotionslose Berichterstattung, wurde längst beerdigt. Immerhin hat es solche Ereignisse auch in der Vergangenheit gegeben. Es sei nur an den Koniginnedag 2009 in Apeldoorn erinnert, als ein Gelderländer mit seinem Auto bei einem gezielten Anschlag sieben Menschen tötete. Jedoch wurden sie nicht so vermarktet und verkitscht, wie es derzeit geschieht. Sentimental und abgeschmackt die Zeichnungen von Plantu, sie zeigen die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft mit jederzeit abrufbaren Emotionen.

     

    Auf das Pferd dieser Form des Regenbogenjournalismus, wie man ihn nur von Erzeugnissen wie "Frau im Spiegel", "Die Bunte", "Das goldene Blatt" usw. kennt, setzen auch die öffentlichen Rundfunkanstalten und präsentieren ihre Reportagen im possierlichen "Ach und Weh"-Stil, lassen Gefühligkeit triefen.

     

    In Wirklichkeit dient das Theater nur der Verdrängung von Schuldgefühlen und befördert die eigene Selbstgerechtigkeit, denn diese Anschläge sind die Konsequenz einer jahrzehntelangen Ausgrenzungspolitik, einer aktiven Spaltung der Gesellschaft zugunsten einer Elite, die das Volk nur als Heloten braucht. Die präsentierten Emotionen sind nichts anderes als ein heutiger Ablasshandel.

     

    Die nächsten Anschläge kommen bestimmt. Automatisch folgt dann der Knopfdruck auf "je suis..."