piwik no script img

Kein Versehen, sondern ein „Abwägungsprozess“

Sekte Deutsche Botschaft lud ganz bewusst Colonia-Dignidad-Täter zu Gauck-Empfang ein

BERLIN epd | Die Einladung zweier Verantwortlicher der ehemaligen Sektensiedlung Colonia Dignidad zum Empfang von Bundespräsident Joachim Gauck in der deutschen Botschaft in Chile in diesem Juli war kein Versehen. Das geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amts hervor, die der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Jan Korte, am Dienstag in Berlin veröffentlichte.

Danach ergingen die Einladungen an Reinhard Zeitner und Hans Schreiber „nach einem Abwägungsprozess der Botschaft Santiago, der Vergangenheit und gegenwärtige Positionierungen der betreffenden Personen einbezogen hat“. Zeitner ist wegen Kindesentführung und -missbrauchs zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Schreiber ist Leiter einer der Betriebe der Nachfolgeorganisation der Colonia, der Villa Baviera, gewesen.

Die Abwägung habe dem Umstand Rechnung getragen, dass in einem geschlossenen verbrecherischen System wie der Colonia „die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht mit letzter Trennschärfe zu ziehen sind“, heißt es in der Antwort des Auswärtigen Amt. Viele frühere Bewohner seien zur Täterschaft gezwungen worden, aber auch selbst Opfer gewesen.

Korte erklärte, die Abwägungen des Auswärtigen Amts „verharmlosen schwerste Straftaten und sind ein Schlag ins Gesicht der Opfer“. Er forderte ein Ende der Zusammenarbeit der Botschaft mit der Führungsriege der Villa Baviera, insbesondere mit verurteilten Straftätern. Die Botschaft in Santiago de Chile pflegt weiterhin regelmäßigen Kontakt zu den Leitern der Colonia-Nachfolgeorganisation, wie das Auswärtige Amt mitteilte. Das Bundespräsidialamt hatte die Einladungen von Schreiber und Zeitner bedauert.

In der Colonia Dignidad wurden während der faschistischen Diktatur unter Pinochet, die von 1973 bis 1990 in Chile herrschte, jahrelang politische Häftlinge gefoltert und als Zwangsarbeiter festgehalten. Kinder wurden kontinuierlich sexuell missbraucht. Die abgeriegelte Siedlung war in den 1960er Jahren von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet worden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen