Martin Kaul über die gespaltene türkische Zivilgesellschaft: Ziviler Gehorsam
Kaum gab es die ersten Meldungen über einen möglichen Putschversuch in der Türkei, flimmerte auch in liberalen deutschen Kreisen kurz diese ambivalente Art von Hoffnung auf: „Ja, endlich!“, „Das ist die gerechte Strafe für überautoritäre Herrscher.“ Dieses Denken ist Folge einer seit Jahren verletzten Würde einer kosmopolitisch denkenden Generation, die sich innerhalb und außerhalb der Türkei als solidarisch versteht. Sie fand ihren unmittelbarsten Ausdruck in den sogenannten Gezi-Protesten 2013. Seinerzeit reisten auch aus Deutschland AktivistInnen in die Türkei, um dem Aufbegehren einer jungen und selbstbestimmten Generation gegen deren Unsichtbarmachung zur Seite zu stehen.
Das ist jetzt wieder nötig. Denn es war Recep Tayyip Erdoğan, der mit seiner autoritären Herrschaftsform und der immer unerbittlicheren Verfolgung politischer Minderheiten diese Verletzungen verursacht hat. Er konnte in der Nacht des Putsches auf Fußtruppen eines zivilen Gehorsams vertrauen, die seine Macht sicherten. Natürlich: Die Leute kämpften für die demokratischen Institutionen der Türkei. Und gleichzeitig für einen Herrscher, der diese aushöhlt, wo immer es geht. Nun ist die Frage: Was war bei diesen Menschen größer: das Vertrauen in die Demokratie? Oder das Vertrauen in ihren Herrscher?
Im Kern der Utopie Erdoğans steht die Vision eines beherrschten Volkes, an dessen Spitze er steht und über dessen Homogenität er befindet. Das ist das exakte Gegenteil der aufklärerischen Idee von Gesellschaft, deren Befürworter in der Türkei kaum noch politische Repräsentation genießen. Ihr hartes Los ist der Kampf, sich in ihrem immer beherrschteren Alltag Räume des Ungehorsams zu erhalten. Und genau an solchen muss sich eine Demokratie messen lassen.
Diejenigen, die dieses Ideal vertreten, sind die tatsächlichen Bodentruppen der Demokratie. Sie benötigen unsere Solidarität.
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