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Es geht auch ohne Stacheldraht

Theater Was heißt Heutigkeit, was heißt Dringlichkeit im Gegenwarts-drama? Die Frage stellte sich Barbara Behrendt, Vorsitzende der Wettbewerbsjury bei den Autoren-theatertagen am Deutschen Theater in Berlin. Ein Auszug aus ihrer Eröffnungsrede

Ein Theater, das den Nachrichten hinterherhechelt, macht sich kleiner, als es ist

von Barbara Behrendt

Vergangenen August, als ich die zu den Autorentheatertagen eingesandten Stücke Paket für Paket an der Pforte des Deutschen Theaters abholte, mit dem Fahrrad nach Kreuzberg-Ost transportierte, spitzte sich die Situation der Flüchtlinge, die nach Europa drängten, von Tag zu Tag immer mehr zu. Während Hunderttausende von Geflüchteten an deutschen Bahnhöfen strandeten, saß ich daheim vor einem Gebirge von 175 Stücken und dachte über die Relevanz von politischer Aktualität in neuer Dramatik nach.

Das Theater ist vorrangig kein Informations-, sondern ein Reflexionsmedium. Und: Es fehlt in dieser globalen Kommunikationsgesellschaft nicht an Möglichkeiten, an fundierte politische Berichte von kompetenten Beobachtern oder an Videos über die dramatischen Welt­ereignisse heranzukommen. Es mangelt nicht an Medien, die diese Informationen bündeln, verstehbar machen – es sind die Tageszeitungen, ­Wochenmagazine, Nachrichtensendungen. Dieser öffentliche Auftrag ist also bereits vergeben – und zwar, zu Recht, nicht ans Theater.

Ein Theater, das in seinen Bildern nur den Fernsehnachrichten hinterherhechelt – ich erinnere an Schlauchboote auf der Bühne, an knöcheltiefes Wasser oder Stacheldrahtrollen –, ein Theater, das in seinen Inhalten nicht über das Meldungsangebot des „heute journals“ hi­nauskommt, macht sich kleiner, als es ist. Mehr als in der Schnelligkeit der Reaktion liegt die Fähigkeit des Theaters darin, uns in tieferen emotionalen und intellektuellen Schichten zu erreichen, uns mit unseren Ängsten und uneingestandenen Widersprüchen zu konfrontieren, uns nicht mit einfachen Antworten abzuspeisen, sondern zum Nachdenken über uns selbst zu bringen.

Das alles ist keine Neuigkeit. Aber es schien mir im vergangenen Jahr tatsächlich so, als hätten viele Bühnen das aus den Augen verloren, weil ihre menschliche Sorge um die Flüchtlinge, ihr bewundernswertes Engagement zu politischem Gesinnungseifer mutierte. Das Flüchtlingsthema wurde im Theater unversehens zum Trend, mit dem man sich seiner eigenen Relevanz versichern konnte. Und Geflüchtete, die an Theaterproduktionen beteiligt sind, die „echten Flüchtlinge“, wirkten auf der Bühne nicht selten nur vorgeführt statt wirklich einbezogen. Mir wurde ein wenig bange, als etwa der SPD-Bürgermeister von Mannheim, voll Stolz auf das Flüchtlingsengagement des dortigen Natio­nal­thea­ters, erklärte, man betrachte in Mannheim Kultur vor allem als soziale „Weiterentwicklung der Stadtgesellschaft“.

Konsens als Bedrohung

Ob da nicht das Theater zu eindimensional auf die Funktion gesellschaftlicher Nützlichkeit festgelegt wird? Im ersten Moment mag man sich ja freuen über die Bedeutung, die Politiker dem Theater neuerdings zuschreiben. Aber beim zweiten Blick sollte man sich daran erinnern, dass das Theater auch in der Demokratie von Konformismus, von zu viel Konsens bedroht sein kann: Der Raum für politisch Inkorrektes, für anarchische Experimente, für nicht zweckgebundene Kunst, fürs verspielt Poetische schrumpft, wenn einem Haus ein solcher Entwicklungsauftrag übergestülpt wird.

Der Schriftsteller Thomas Melle, der mit seinem Stück ­„Bilder von uns“ auch bei den Autorentheatertagen in Berlin gastiert, sagte kürzlich: „Ich meine, wenn etwas medial so präsent ist, muss die Kunst nicht sofort hinterherhetzen. Da braucht es eine andere Distanz.“ Er bezog das auf den Missbrauchsskandal am Bonner Aloisiuskolleg, den er in seinem Stück verarbeitet – aber er spricht hier auch eine grundsätzliche Wahrheit über Kunst aus. Das Theater muss eben gerade nicht, um Aufmerksamkeit zu erheischen, am sogenannten Puls der Zeit sein, es kann nicht nur die Fortsetzung der „Tagesschau“ mit anderen Mitteln sein.

Ich glaube, dass ein Theater, das seine Aktualität mit so großen Worten ins Schaufenster stellt, nur eines sein kann, das den Glauben an sich selbst und seine eigenen Mittel schon verloren hat. Entscheidend ist doch, wenn wir Thomas Melle recht verstehen: Sobald ein Thema medial Konjunktur hat, sobald wir uns darüber ohnehin informiert fühlen, kommt es im Theater umso mehr auf die Form an, in der das Thema verhandelt wird. In diesem Fall gilt die Umkehrung des Shakespeare-Zitats „Mehr Inhalt, weniger Kunst“: Jetzt braucht es unbedingt mehr Kunst. Nicht im Sinne narzisstischer Selbstbespiegelung, sondern in Form starker ästhetischer Setzungen – also nicht nur als simple Illus­tration von Inhalt.

Einen anderen jungen Thea­terautor will ich noch zu Wort kommen lassen: Dirk Laucke, der sein Stück „Furcht und Ekel“ mit einer wunderbaren Theatersatire enden lässt. Ein Verleger schlägt einem Intendanten eine herzergreifende Erzählung fürs Theater vor, die ein unbekannter israelischer Autor geschrieben hat. Es ist die Geschichte eines israelischen Bademeisters, der am Mittelmeer ein kleines Mädchen aufliest und bei sich aufnimmt, weil dessen Eltern nicht zu finden sind. Das Mädchen fasst nur langsam Vertrauen zu dem alten Mann. Es knipst mit der uralten Kamera des Mannes herum – und als der den Film schließlich entwickeln lässt, bekommt er auch die Bilder von sich und seiner längst verstorbenen Frau in die Hand gedrückt, die schon jahrelang auf dem Film waren. Er sieht sein junges Gesicht von damals, sein jetziges im Spiegel und versteht, dass er die letzten zehn Jahre keinen Tag gelebt hat.

Der Biss, die neue Norm

Das ist eine traurig-schöne Geschichte über die Fragen des Menschseins, über Liebe, Abschied und Neubeginn. Doch wie reagieren die Theaterleute in Lauckes Stück? Der Intendant: „Wir wollen nicht kuscheln, wir wollen die Reibung. Theater kann nur überleben, wenn es die Augen vor der Wirklichkeit nicht verschließt. […] An irgendwas fehlt’s mir in der Geschichte.“ Und die Dramaturgin: „Mir fehlt da eindeutig die Aktualität. Mir fehlt der Biss.“ Die Lösung scheint ihnen ganz einfach: „Die Geschichte spielt in Israel, und da klingeln bei mir alle Alarmglocken. […] Wenn das Kind ein Palästinenserkind wäre, hätte die Geschichte doch schon ganz andere Ausmaße.“

Dirk Laucke ist ein politischer Autor, ein Aufklärer – und er ist es schon immer gewesen, lange bevor das am Theater so angesagt war wie in diesen letzten Monaten. Man kann Lauckes Geschichte durchaus als eine grundsätzliche Kritik daran lesen, wie politisch korrekt, wie konformistisch es am Theater derzeit zugeht. Um einem geschätzten Kollegen von mir einen guten Satz zu klauen: „Das Politischste, was man derzeit am Theater machen kann, ist, sich diesem Druck, politisch sein zu müssen, zu verweigern.“ Das ist natürlich polemisch. Aber ich zweifle tatsächlich daran, dass all jene Autoren, denen vor wenigen Jahren der Vorwurf vorauseilte, über das Milieu der eigenen WG-Küche nicht hinauszusehen, über Nacht wirklich „politische Autoren“ geworden sind. Oder ob sie nicht in vielen Fällen nur auf das reagieren, was vom Markt verlangt wird.

Ich will es zuspitzen: Es muss erlaubt sein, auch mitten in einer großen gesellschaftlichen Krise, dass ein Autor sich mit Liebe, Tod, Sehnsucht auseinandersetzt, ohne dafür den Vorwurf zu kassieren, das sei unwichtig oder überflüssig. Auch ich kann, wenn ich mich ehrlich befrage, nicht von mir behaupten, jede Nacht von Geflüchteten, von IS-Entführern oder der Griechenlandkrise albzuträumen. Auch wenn es natürlich angebracht wäre, das zu tun. Und politisch korrekt, es zu behaupten.

Wir sollten uns keine Sorgen machen, dass das Theater für ein politisches Thema zu spät dran wäre. Die Krise der europäischen Gesellschaft, allen voran das Flüchtlingsproblem, ist nicht nur tagesaktuell. Dieses Thema wird uns, das wissen wir doch alle, noch Jahre und Jahrzehnte begleiten. Man darf und muss es Autoren also nicht nur zugestehen, sondern sie vielleicht sogar dazu aufrufen, sich die ein, zwei Jahre Zeit zu nehmen, die es braucht, um ein wirklich kluges, vielschichtiges, bewegendes Stück dazu zu schreiben. Wenn das Thema von den Medien längst durchgekaut und wieder ausgespuckt sein wird, dann ist die Stunde des Theaters gekommen. Also: sehr bald. Ich hoffe, dass die Theater dann nicht abwinken und schon längst auf der Suche sind nach dem neuen Stück zur Altersarmut oder zur AfD.

Barbara Behrendt, Theaterkritikerin und taz-Autorin, ist Jury-Vorsitzende der Autorentheatertage 2016. Zusammen mit Dietrich Brüggemann und Wiebke Puls hat sie aus 175 eingesandten Stücken drei ausgewählt, die in Uraufführungen bei den Autorentheatertagen (noch bis 25. 6.) zu sehen sein werden

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