: Die Null steht
Remis Wenigstens wackelte die Abwehr nicht: Nach dem torlosen Unentschieden gegen Polen sucht die DFB-Elf noch ihre Balance. Im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland soll es auch vorn besser werden
Aus Paris Johannes Kopp
Überzahl schaffen, so heißt eines der wichtigsten Gebote im modernen Fußball. Und wenn man dem recht frustriert wirkenden Mesut Özil so nach dem torlosen Remis am Donnerstagabend zuhörte, haben die Polen das ganz gut hinbekommen mit der Überzahl. „Die haben ja mit 20 Mann hintendrin gestanden“, entgegnete er, als er erklären sollte, warum der deutschen Offensive die Durchschlagskraft fehlte.
Das war die Frage aller Fragen nach der Partie. Auch Jérôme Boateng hatte kurz nach dem Abpfiff betont: „Das müssen wir ändern, sonst kommen wir nicht weit. Offensiv hat heute viel gefehlt.“ Weil sich mit Özils Antwort aber keiner recht zufriedengeben wollte, korrigierte der Mann, der eigentlich als Hauptimpulsgeber im Spiel nach vorn vorgesehen ist, die Zahlen kurze Zeit später nach oben: „Die haben doch mit 50 Mann verteidigt.“
Die Botschaft: Was will man schon gegen so viele Verteidiger ausrichten? Eine Kapitulationserklärung, die Özil wie immer mit leiser Stimmer vortrug. Und die Ratlosigkeit, die auf dem Spielfeld zu beobachten war, setzte sich auch in den Katakomben des Stade de France fort. Mit einer Gegenfrage versuchte sich Thomas Müller um eine Antwort zu drücken, als er eine Idee zur Ideenlosigkeit des deutschen Angriffsspiels formulieren sollte: „Was glauben Sie denn, woran es liegt?“
Mehr noch als der unauffällige Özil sucht der Profi des FC Bayern München nach seiner Rolle im deutschen Team. Gerade Müller, dem ein so instinktsicheres Gefühl dafür nachgesagt wird, sich zur rechten Zeit vorne in die richtigen Räume zu begeben, ist bei seinen beiden ersten Auftritten in Frankreich häufig zur früh oder zu spät gestartet – und dann auch noch in die falsche Richtung. „Das ärgert mich natürlich, dass ich in den letzten beiden Spielen keine Torchance hatte“, räumte Müller ein. „Wir müssen in die Analyse gehen, was uns gefehlt hat, und im nächsten Spiel versuchen, das besser zu machen.“
Es gibt einigen Veränderungsbedarf im deutschen Offensivspiel. Personell lassen sich die Probleme eher nicht beheben. Die eingewechselten André Schürrle und Mario Gómez konnten nicht zeigen, dass sie die eigentlich besseren Alternativen sind.
Lange Zeit konnte man sich beim deutschen Team meist darauf verlassen, dass gegen tief gestaffelte Mannschaften irgendwann eine der vielen Kombinationsversuche zum Erfolg führen würde. Seit dem WM-Titelgewinn in Brasilien ist das aber nicht mehr so. Den Weltmeistern fehlt nach dem großen Erfolg der Punch. Dafür hat sich eine trügerische Selbstsicherheit eingeschlichen, die kurz gefasst dem Text des Lieblingshits der deutschen Schlachtenbummler entspricht: „Die Nr. 1 der Welt sind wir.“
Die geringe Offensivausbeute (drei kümmerliche Schüsse aufs Tor) am Donnerstagabend wollte Bundestrainer Joachim Löw ebenfalls weniger seinen Kreativspielern anlasten; er führte sie vielmehr auf die hervorragende polnische Defensivarbeit zurück. Beide Teams hätten eben sehr gut verteidigt. Sorgen wegen Müller oder Özil, versicherte er, würde er sich nicht machen. „Sie sind vielleicht ein bisschen glücklos gewesen, aber das wird sich ändern.“
Ein Weltmeistertrainer wie Löw kann es sich leisten, mit der Selbstgewissheit eines Orakels zu sprechen. Und natürlich hat er recht, wenn er darauf hinweist, dass die Deutschen ab dem Achtelfinale eher auf Gegner ähnlicher Kragenweite treffen werden, deren offensiver ausgerichtetes Spiel auch den Deutschen mehr Spielräume bietet. Aber ob allein die Kraft seiner Worte ausreichen wird, um den mutlosen deutschen Offensivspielern mehr Zutrauen einzuflößen, bleibt zweifelhaft.
Tragfähiger für einen guten EM-Verlauf wäre gewiss noch ein Vorrundenerfolgserlebnis, das die deutsche Elf jeweils bereits bei der WM 2010 (4:0 gegen Australien) und 2014 in Brasilien (4:0 gegen Portugal) beflügelte. Für ein solches Offensivspektakel bedarf es einer gewissen Courage. Man sei gegen Polen vielleicht nicht genug ins Risiko gegangen, sinnierte Thomas Müller. Das sei bei so einer konterstarken Mannschaft aber auch immer eine Abwägungssache.
Vor der abschließenden Partie gegen Nordirland am Dienstag will Löw versuchen, im Training das Offensivspiel wieder zu beleben. Das kündigte er im Anschluss an die Nullnummer gegen Polen an. Vielleicht treibt er ja im Trainingsquartier in Evian für Özil 50 Komparsen auf, damit alle bestens auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.
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