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Zuflucht zwischen Gräbern

Stadtnatur Von wegen letzte Ruhe: Die Berliner Friedhöfe sind Lebensraum für eine große pflanzliche wie tierische Artenvielfalt. Was da alles kreucht und fleucht, lässt sich jetzt am Wochenende mit Führungen beim Langen Tag der Stadtnatur studieren

von Susanne Messmer

Man hört von Menschen, die in der Provinz aufgewachsen sind und bis heute davon schwärmen, wie sie auf dem Friedhof spielten. Die Käfer dort waren bunter, die Vögel sangen lauter als auf den benachbarten Wiesen und Feldern. Was ja auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn man die Methoden der seit Jahrzehnten vorherrschenden Intensivlandwirtschaft bedenkt.

Nun ist die Großstadt nicht gerade der Ort für eine Intensivlandwirtschaft – und doch sind auch in Berlin die Friedhöfe Zufluchten für eine große Artenvielfalt, auf deren Bedeutung der Naturschutz schon lang aufmerksam macht. Auch an diesem Wochenende finden im Rahmen des Langen Tags der Stadtnatur (bei dem es sich eigentlich um ein langes Wochenende der Stadtnatur handelt) neun der insgesamt über 500 Veranstaltungen auf Friedhöfen statt.

„Auf den Berliner Friedhöfen wurden bislang 61 Vogelarten nachgewiesen“, sagt etwa Manfred Schubert von der Stiftung Naturschutz Berlin, der am Sonntag eine Führung auf dem Luisenstädtischen Friedhof am Kreuzberger Südstern anbietet. Auch seien die über tausend Hektar unversiegelter Fläche der über 200 Berliner Friedhöfe überaus wichtig für die Qualität der Luft und des Grundwassers in dieser Stadt, fügt er an.

Die Natur der Stadt

Der Lange Tag der Stadtnatur dauert 26 Stunden, er beginnt am Samstag, 18. Juni, um 16 Uhr, und endet am Sonntag, 19. Juni, um 18 Uhr. Das 26-Stunden-Ticket kostet 7, ermäßigt 5 Euro. Das Einzelveranstaltungsticket kostet 4 Euro. Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Begleitung erwachsener Ticketinhaber. Programm: www.langertagderstadtnatur.de

Von den insgesamt rund 500 Veranstaltungen finden neun auf Friedhöfen statt. Am Samstag ab 16 Uhr können Kinder im Leise-Park Insektenhotels bauen – unter Anleitung des Grünen-Abgeordneten Stefan Gelbhaar. Treffpunkt: Eingang gegenüber der Heinrich-Roller-Grundschule. Am Sonntag ab 7.30 Uhr gibt es einen Streifzug durch die Naturwelt der Bergmann-Friedhöfe. Treffpunkt: Eingang Luisenstädtischer Friedhof. Noch einmal über den Luisenstädtischen Friedhof geht es angeleitet von Manfred Schubert später am Sonntag ab 16 Uhr. (sm)

Obwohl mehr als ein Drittel der Berliner Friedhöfe als Gartendenkmäler in die Berliner Denkmalliste eingetragen sind, stehen sie doch unter Druck: segen der sinkenden Sterberaten, der zunehmenden Urnenbestattungen und der damit zusammenhängenden Platzersparnis einerseits – und andererseits wegen der aggressiver werdenden Bebauungspläne, die auch vor der Totenruhe keinen Halt machen wollen.

Zuletzt, so Schubert, gingen zum Beispiel Anwohner gegen die Bebauung auf dem Gebiet des Friedhofs zwischen Heinrich-Roller-Straße, Greifswalder Straße und Prenzlauer Allee in Prenzlauer Berg auf die Barrikaden. Heute existiert dort auf einem Teil des Friedhofs ein Biotop namens Leise-Park, wo Kinder auf Klettergerüsten, aber auch neben alten Grabsteinen und Familiengrüften spielen können. Wie auf vielen der Berliner Friedhöfe werden dort alte Gehölzbestände, dichte Büsche und ungemähte Brachflächen einfach gelassen, wie sie sind, die Grabsteine werden nicht poliert, auch das fürs Überwintern vieler Arten so wichtige Herbstlaub wird nicht gleich weggefegt.

Wer im Sommer die Parks wegen Überfüllung eher meidet und auf die schattigeren Friedhöfe auszuweichen pflegt, der weiß, dass er dort etwas Ruhe findet. Wohl auch aus tief sitzenden Gründen der Pietät werden Friedhöfe von der breiteren Allgemeinheit nach wie vor eher nicht als Naherholungsgebiet genutzt. Gleichzeitig werden immer mehr innerstädtische Brachen bebaut, sodass die Friedhöfe stärker von den wilden neuen Mitbürgern dieser Stadt als Rückzugsgebiete genutzt werden: von den Füchsen, Nachtigallen, Kolkraben. Diese Tiere wissen bestimmt auch zu schätzen, dass auf Friedhöfen die Leinenpflicht für Hunde strenger gehandhabt wird und dass sie im Unterschied zu den Parks nachts stets geschlossen sind.

Zilpzalp, Gelbspötter, Heckenbraunelle: kann man alle auf den Berliner Friedhöfen hören

Auf Schritt und Tritt kann man auf Berliner Friedhöfen seltene Farne, Flechten und Moose studieren und dem Gesang von Boden-, Busch- und Freibrütern mit klangvollen Namen wie Zilp­zalp, Heckenbraunelle, Gelbspötter und Trauerschnäpper lauschen. Man wird bald feststellen: Dem Geschnatter der Eis leckenden, grillenden und Fußball spielenden Menschenmassen im Park mag man auf dem Friedhof entkommen sein, dem der tierischen Nachbarn dagegen nicht. Der französische Erzähler Guy de Maupassant hatte durchaus Recht, als er nicht nur aus melancholischen Gründen gern zwischen Gräberreihen wandelte. Wie „gewaltige, ungeheuerlich bevölkerte Städte“ schienen ihm die Friedhöfe – sei es wegen der Geister, sei es wegen der Vögel.

So sind also auch Clubgänger gut beraten, nach einer durchtanzten Nacht eine der Führungen über einen Friedhof mitzumachen. Etwa die über die Kreuzberger Bergmannstraße-Friedhöfe, die am sehr frühen Sonntagmorgen stattfindet (siehe Kasten). Gar nicht, um dabei zur Ruhe zu kommen. Hier darf man sich fühlen, als ginge es einfach weiter mit dem wilden Feiern. Greenhopping ist das neue Partyhopping.

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