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Zeit für die Zehn!

Essay Es gibt viele gute Argumente für einen Mindestlohn, von dem man tatsächlich leben kann

Illustration: Eléonore Roedel

Christoph Butterwegge

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Zeitstunde, den CDU, CSU und SPD auf Drängen der Letzteren eingeführt haben. Vom nächsten Jahreswechsel an gilt er für alle Wirtschaftszweige, darunter auch solche, die zunächst Ausnahme­regelungen in Anspruch genommen oder in Tarifverträgen vorüber­gehend niedrigere Lohnuntergrenzen vereinbart hatten. Ende Juni soll nun die Mindestlohnkommission der Bundesregierung, ein Gremium aus drei Arbeitgeber- und drei Gewerkschaftsvertretern, einem „neutralen“ Vorsitzenden und zwei beratenden Wissenschaftlern, der Politik eine Empfehlung geben: darüber, wie hoch der Stundensatz ab 2017 sein soll.

Ein riesiger Fortschritt

Aufgrund zahlreicher Ausnahme-, Sonder- und Übergangsregelungen, etwa für Langzeitarbeitslose, Jüngere ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten und Zeitungszusteller, sowie geschickter Ausweichstrategien der Arbeitgeber kam der Mindestlohn keineswegs bei sämtlichen Niedrigstlöhnern in Deutschland an. Trotzdem war er gegenüber dem früheren, quasi rechtlosen Zustand dieser Arbeitnehmer ein riesiger Fortschritt. Annähernd vier Millionen Beschäftigte, die vor allem im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe tätig sind, haben unmittelbar von der Mindestlohnregelung profitiert, weil ihre Lohnhöhe unter 8,50 Euro brutto pro Stunde lag.

Durch den Mindestlohn sind extreme Niedriglöhne und noch größere Lohnungleichheit verhindert worden. 58.000 Minijobber haben bis zum Herbst 2015 in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gewechselt. Zurückgegangen ist auch die Zahl der meist schlecht bezahlten Praktika. Schließlich hat der Mindestlohn weder der Konjunktur noch dem Arbeitsmarkt geschadet, wie von seinen liberalkonservativen Kritikern prophezeit. Ganz im Gegenteil hat er die Massenkaufkraft erhöht, die Binnennachfrage belebt und das Wirtschaftswachstum angekurbelt. Allerdings konnten nur etwa 57.000 der 1,3 Millionen sogenannten Aufstocker durch den Mindestlohn dem Hartz-IV-Bezug entfliehen. Die besonders schützenswerte Gruppe der Langzeitarbeitslosen hat offenbar in keiner Weise davon profitiert, dass sie sechs Monate lang vom Mindestlohn ausgeschlossen ist. Bei den Jobcentern stehen nicht etwa die Arbeitgeber Schlange, um Erwerbslose unterhalb des üblichen Mindestlohnniveaus einzustellen. Vielmehr wirken die bekannten Vorbehalte gegenüber Menschen fort, die über einen längeren Zeitraum hinweg Transferleistungen bezogen haben.

Folgendes Zwischenfazit kann man ziehen: Zwar hat der Mindestlohn für mehr (sozialversicherungspflichtige) Beschäftigung gesorgt, Armut und soziale Ausgrenzung aber nicht beseitigt. Als die Zahl der Zuwandernden im Spätherbst 2015 so stark stieg, dass die Mainstream-Medien fortan nicht mehr die „deutsche Willkommenskultur“ feierten, sondern unter dem Schlagwort „Flüchtlingskrise“ überwiegend einer rigideren Fremdenabwehr das Wort redeten, sahen Wirtschaftslobbyisten und Neoliberale ihre Chance gekommen, eine Abschaffung oder Aufweichung des Mindestlohns zu fordern. Hans-Werner Sinn, damals noch (einflussreicher) Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München, schlug mehrfach vor, die seit dem 1. Januar 2015 gültige Lohnuntergrenze zu senken oder ganz aufzugeben. Der CDU-Wirtschaftsrat verlangte eine befristete Ausnahmeregelung und niedrigere Einstiegslöhne für Flüchtlinge, und auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wollte Flüchtlinge auf der Suche nach einem Arbeitsplatz wie Langzeitarbeitslose behandeln und ihnen sogar zwölf Monate lang den Mindestlohn vorenthalten. Außerdem sollte dieser nach Meinung der „fünf Wei

sen“ vorerst nicht erhöht werden.

Ein solcher Maßnahmenkatalog würde nicht bloß die Armut der betroffenen Flüchtlinge vergrößern und erneut das gesamte Lohnniveau in Deutschland nach unten ziehen, sondern auch die Zahl der „aufstockenden“ Hartz-IV-Bezieher erhöhen, also den Staatshaushalt zusätzlich belasten, die Massenkaufkraft verringern und damit die durch den Mindestlohn gestärkte Binnenkonjunktur abwürgen. Außerdem würde Wasser auf die Propagandamühlen der extremen Rechten geleitet, die vom sozialen Abstieg bedrohten Angehörigen der unteren Mittelschicht einzureden versucht, dass ihnen Zuwanderer die Jobs wegschnappen.

Da sich die Mindestlohn-Kommission laufend an der Tariflohnentwicklung orientieren soll und davon nur mit einer Zweidrittelmehrheit abweichen kann, seitens der Arbeitgeber jedoch mit Hinweis auf den Zuwachs an Flüchtlingen für den Arbeitsmarkt sogar eine Absenkung des Mindestlohns ins Gespräch gebracht wurde, ist für 2017 höchstens eine leichte Erhöhung auf 8,75 bis 8,85 Euro pro Stunde zu erwarten. Das reicht jedoch selbst bei Vollzeitbeschäftigung nicht zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums aus. Zudem hätte Deutschland als stärkster „Wirtschaftsstandort“ damit immer noch den niedrigsten Mindestlohn in Westeuropa.

Wenn die Würde des (arbeitenden) Menschen gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes den Maßstab bildet, um den im Gesetzestext der Großen Koalition geforderten „angemessenen Mindestschutz“ der Beschäftigten zu garantieren, kann man vier unterschiedliche Messlatten an den Mindestlohn anlegen.

Erstens die Gewährleistung des Existenzminimums: Reicht er aus, um ohne den ergänzenden Bezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) leben zu können? Zweitens die Vermeidung von Erwerbsarmut: Reicht er aus, um nicht arm oder armutsgefährdet sein, das heißt wenigstens 50 bzw. 60 Prozent des mittleren Lohns zu erzielen? Drittens die Überwindung der Niedriglohnschwelle: Reicht er aus, um wenigstens zwei Drittel des Durchschnittslohns zu verdienen? Viertens die Vermeidung von Altersarmut: Reicht er aus, um auch im Rentenalter ohne den ergänzenden Bezug staatlicher Grundsicherungsleistungen leben zu können?

Foto: Wolfgang Schmidt
Christoph Butterwegge

lehrt Politikwissenschaft an der Universität Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ sowie „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition“ erschienen.

Der geltende Mindestlohn ermöglicht es seinen Beziehern in den meisten Fällen allerdings nicht einmal, die niedrigste Hürde zu nehmen: Nur wer keine Kinder und eine preiswerte Mietwohnung hat, kommt durch den Mindestlohn in der bisherigen Höhe aus Hartz IV heraus. Denn man muss über den höheren Lohn erstens die Miete und die Heizkosten erwirtschaften, die bisher das Jobcenter bezahlt hat; zweitens die Differenz zwischen dem Kindergeld und dem Hartz-IV-Regelsatz für Kinder. Und einem entgeht auch noch das Bildungs- und Teilhabepaket, außer wenn Kinderzuschlag oder Wohngeld bezogen wird.

Kein Armutslohn im Reichtum

Nur wenn man sich auf Dauer mit dem Phänomen der „working poor“ abfindet, kann man einen Mindestlohn unterhalb der Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent akzeptieren. Hierzulande erreicht der Mindestlohn nach Erhebungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) gerade einmal 47,8 Prozent des mittleren Lohns. In einem reichen Land wie der Bundesrepublik darf der Mindest- allerdings kein Armutslohn bleiben!

Um mit dem ausufernden Niedriglohnsektor das Hauptrisiko für Armut in Deutschland zu verschließen, müsste der Mindestlohn flächendeckend sein und allen Beschäftigten wenigstens zwei Drittel des Medianlohns sichern. Um nach 45-jähriger Vollzeitberufstätigkeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung im Alter zu gewährleisten, müsste der Stundenlohn nach Regierungsangaben sogar mehr als 11,50 Euro betragen. Berücksichtigt man die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sozialökonomische Großwetterlage und das politische Klima, muss analog zur vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders unterstützten Gewerkschaftskampagne „Fight for Fifteen“ für einen Mindestlohn von 15 Dollar hierzulande die Losung ausgegeben werden, dass es Zeit für 10 Euro ist. Da alle westeuropäischen Staaten bereits heute einen – teilweise sogar erheblich – höheren Mindestlohn als die Bundesrepublik haben, Deutschland aber das wirtschaftsstärkste EU-Mitglied ist, sind 10 Euro pro Stunde notwendig. Dadurch lässt sich auch verhindern, dass sich Deutschland durch Lohndumping noch länger Wettbewerbsvorteile gegenüber schwächeren Konkurrenten wie den „Euro-Krisenstaaten“ Griechenland, Portugal und Italien verschafft.

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