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Bekannt und fremd zugleich

Porträt Mit Lakonie und schwarzem Humor durch die Zeit: Am Samstag kann Guntram Vesper, der für seinen Roman „Frohburg“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, Geburtstag feiern

von Jochen Schimmang

Im Juni 1985 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Text von Guntram Vesper unter dem Titel „Über Frohburg und sich selber schreiben“. Fast wäre man versucht zu sagen: Etwas Anderes hat dieser Autor sein Leben lang nicht getan. Aber das wäre zweifellos falsch, denn Vesper hat auch über Steinheim im Vogelsberg und über Göttingen geschrieben, über sexuelles Begehren und Lüsternheit, über die Jagd nach seltenen und weniger seltenen Büchern, vor allem aber über Mord und Totschlag, Angst bis zur Paranoia, Geschichte als Gewaltkontinuum.

Von Hause aus ist Vesper Lyriker, jedenfalls hat er so angefangen. Und das lyrische Ich, das ist die gängige Vorstellung, hat einen ganz bestimmten Blick auf die Welt und kann von sich selbst nie so ganz absehen. Muss es auch nicht, solange dieser Blick vor nichts die Augen verschließt und dabei zugleich, wie bei Vesper, voll versteckter Empathie ist, die jedoch nie explizit ausgesprochen wird. Diese Empa­thie gilt den je konkreten Opfern, darüber hinaus aber jener „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ insgesamt, mit der schon Kleists Kohlhaas bekannt war.

„Frohburg“, es ist inzwischen oft darauf hingewiesen worden, dass es ein Werk mit diesem Titel von Guntram Vesper gleich zweimal gibt, einmal als Lyrik, einmal als Prosa. Erstaunlicherweise ist aber selten erwähnt worden, dass der aktuelle, völlig zu Recht mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Roman einen Prosazwilling aus dem Jahr 1979 hat, ja, dass sich hier nach mehreren Jahrzehnten ein Kreis geschlossen hat.

„Nördlich der Liebe und südlich des Hasses“ hieß das Buch, nicht etwa in einem bibliophilen Kleinverlag erschienen wie manche Gedichtbände von Vesper, sondern bei Hanser. Es war zudem ein Erfolg, nicht nur bei der Kritik, sondern auch beim Publikum. Der Klappentext beginnt mit dem Satz: „Guntram Vesper hat ein Buch über unser Land und über unsere Zeit geschrieben.“ Das lässt sich, wörtlich, auch über den Roman „Frohburg sagen. Mit der Einschränkung, nein, Erweiterung, dass „unsere Zeit“ in beiden Büchern einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten umfasst, ohne Weiteres immer wieder ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert zurückgreift, getreu dem Satz von Balzac, den Vesper dem damaligen Buch als Motto vorangestellt hatte: „Das Heute ist nur der jüngere Bruder vom Gestern.“

Diesem Motto ist er in allen seinen Werken, auch in der Lyrik, treu geblieben, und vielleicht erklärt gerade das, warum er lange Zeit als Autor weitgehend vergessen war. Wo die ewige Jetztzeit triumphiert und Autoren fast nur noch im Präsens schreiben, hat auch literarisches Gedächtnis wenig Platz. Daher war Vesper etwa zwischen 1985 und heute nicht nur aus der Wahrnehmung des Pu­bli­kums weitgehend verschwunden, sondern auch aus der des literarischen Tagesbetriebs.

Allerdings hat es immer Kollegen wie Kritiker gegeben, die den Rang dieses Autors erkannt haben, Kunert und Rühmkorf, Raddatz und Franz-Josef Görtz. Thomas Schaefer hat zudem 2006 in einem Heft der Horen unter dem Titel „Aus dem tiefen Inneren des Landes. Eine Lanze für Guntram Vesper“ einen Essay über den Autor geschrieben, der als die beste Einführung in das Werk gelten kann.

Aus dem tiefen Inneren des Landes, das heißt jenseits der Metropole(n), sind auch Vespers Bücher geschrieben. Diese literarische Geschichtsschreibung, darum handelt es sich, setzt dort an, wo Geschichte als fortlaufender Gewaltprozess am nachhaltigsten spürbar ist: in den Provinzen. Vespers Provinzen sind in Hessen, in Niedersachsen und vor allem natürlich in ­Westsachsen verortet, bei Frohburg, der Kleinstadt zwischen Leipzig und Chemnitz, in der Vesper vor 75 Jahren, am 28. Mai 1941, als Sohn eines Landarztes geboren wurde und die er zusammen mit den Eltern 1957 in Richtung Westdeutschland verließ.

„Frohburg“ beginnt gleich nach einer ersten lakonischen Stichwortsammlung – Lakonie ist ohnehin ein Merkmal dieses Autors, was man angesichts eines Romans von 1.002 Seiten zunächst kaum glauben mag – mit der Erschießung von sieben Bewohnern des Dorfes Küllstedt durch die sowjetischen Besatzer, bei der das gesamte Dorf zusehen muss. Darüber herrscht anschließend „fünfundvierzig Jahre eisiges Schweigen“. „Dabei hatte die Befreiung stattgefunden, war Frieden eingekehrt. Aber nur an den Fronten.“

Von dort wandert die Gewalt ins Landesinnere, und sie geht keineswegs immer nur vom Staate aus, sondern auch vom Volke. Wenn Vesper deutsche Geschichte entlang der Provinz erzählt, dann nicht, um Letztere zu idealisieren. Gewaltverhältnisse werden überall ausgebrütet und dominieren überall.

„Ich werte es nicht, ich sage es nur“, heißt es gegen Ende von „Frohburg“, und in der Tat ist Vespers Erzählen, auch wenn es manchmal atemlos erscheint, sprachlich so durchgearbeitet, so diszipliniert, dass er in seinem gesamten Werk auf jedes Ausrufungs- und jedes Fragezeichen verzichtet. Die Atemlosigkeit liegt in den Ereignissen selbst, nicht beim Autor. Zwei besonders bedrückende Kapitel aus „Nördlich der Liebe“ heißen „Eine blutige Geschichte“und „Reise in eine verhangene Landschaft voller Katastrophen“. Beides könnte man als Überschrift über Vespers gesamtes Werk setzen. Dabei sollte allerdings nicht der abgründige „schwarze Humor“ verschwiegen werden, der dieses Werk auch trägt. Hier ist Vesper sehr nah an Becketts Satz: „Nichts ist komischer als das Unglück.“

Vespers Bücher ­stellen den uralten Zusammenhang von Literatur und Histo­riogafie wieder her

Ein Gefühl scheint durch alle Geschichten, alle Gedichte hindurch: die Angst. „Was Angst ist, wie sie entsteht. Wie schnell das geht. Wie unvermittelt sie aufkommt.“ „Nördlich der Liebe kann, ebenso wie viele Gedichte aus der Zeit, stellenweise auch als ein Psychogramm der paranoischen Stimmungen der siebziger Jahre gelesen werden. Es wäre hochinteressant, das Buch – wenn es denn noch greifbar wäre! – noch einmal parallel zu Michael Rutschkys 1980 erschienenem „Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre“ zu lesen – wenn das denn noch greifbar wäre. Zugleich schweift aber hier wie in „Frohburg der Blick immer durch die Jahrhunderte. „Viel Zeit ist vergangen, aber die Geschichte kannst du überall in den Dörfern hören. Was sind für so einen Stoff dreihundert Jahre.“

Vespers Bücher, die Lyrik eingeschlossen, sind eine Geschichtsschreibung, die den uralten Zusammenhang von Literatur und Historiografie wiederherstellt, indem sie die konkreten Geschichten nicht zugunsten der vorschnellen Stiftung des Großen und Ganzen unterschlägt. Spätestens seit „Frohburg“ ist klar, dass er mit dieser deutschen Geschichtsschreibung in der jüngeren deutschen Literatur nur mit Uwe Johnson vergleichbar ist, an den es in „Frohburg“ bei der Beschreibung eines Kindheitsurlaubs an der Ostsee eine kleine Hommage gibt. Dagegen ist – mit Verlaub und vorauseilender Bitte um Vergebung an alle Fans – im Vergleich mit Vesper das Werk Walter Kempowskis doch recht betulich.

„Eine Flut von Bildern. Filme, wie rasend abgespult. Bekannt und fremd zugleich. Das dauernde Gefühl, alles, alles schon erlebt zu haben.“ So heißt es 1979, so stürzt auch die Fülle der Geschichten von „Frohburg zunächst auf uns ein, bevor nach und nach deutlich wird, dass dieser Koloss von einem Buch höchst musikalisch durchstrukturiert ist. Diese Geschichtenfülle musste dem Autor übrigens buchstäblich entrissen werden, damit Vesper, der auch im persönlichen Gespräch ein unermüdlich sprudelnder Erzähler ist, innehielt und das Buch publiziert werden konnte. Er hätte wohl sonst immer weitergemacht. Drum sei dem Verleger Klaus Schöffling auch gedankt.

Der Generalbass dieser Geschichten ist Mord und Totschlag. Kriminalfälle faszinieren Vesper nach seinen eigenen Worten um so stärker, je rätselhafter sie sind. Zu seinen bevorzugten Lektüren zählt der „Neue Pitaval“, eine Sammlung von Kriminalgeschichten, seit dem Ancien Régime fortgeschrieben. Wann und für wie viel Geld er in welchen Antiquariaten diese 60 Bände zusammengetragen hat, weiß der manische Bücherjäger selbst nicht mehr, doch sie stehen fein aufgereiht im Regal des Wohnzimmers an der Herzberger Landstraße im gutbürgerlichen Göttinger Ostviertel. Das hatte er 1979 noch von außen beschrieben; nun wohnt er mit seiner Frau schon lange selbst dort. In den vergangenen Jahrzehnten hat er sich selbst gern auch „Privatgelehrter“ genannt.

Dass er mit „Frohburg kurz vor seinem 75. Geburtstag aus dem Schatten dieser Privatgelehrtenexistenz getreten ist, ist ein sehr großer Glücksfall. Für uns.

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