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Gehörnter Gegner

FUSSBALL Mit einem psychologischen Kniff zur Halbzeit dreht der FC Sevilla das Finale der Europa League und gewinnt gegen den FC Liverpool 3:1. Es ist ein historischer Sieg

aus Basel Florian Haupt

Als Letzter verabschiedete sich im St. Jakob Park der Pokal. Im Mannschaftsbus des FC Sevilla war der Motor schon angeworfen, an Bord wurde gesungen, getrommelt und gebusselt, als die andalusische Delegation noch die letzten Fotos aufnahm. Für den dritten Sieg hintereinander und den fünften insgesamt erhält Sevilla jetzt eine besondere Nachbildung der Trophäe: quasi ein Hochzeitsgeschenk, wo Trainer Unai Emery die Europa League doch als „zweite Frau der Sevillistas“ bezeichnet.

Was für eine Ehe. „Es ist unglaublich, uns gehen die Worte aus“, sagte Sportdirektor „Monchi“ Rodríguez, während er immer wieder von einem seiner Spieler angeknufft wurde. Wie soll man dem Aufstieg eines Vereins auch noch gerecht werden, der bei Monchis Amtsantritt im Jahr 2000 in der zweiten Liga spielte und nicht mal seine Trainingsbälle bezahlen konnte. Und der 58 Jahre lang nichts gewann. Dessen drei Titel nacheinander nun aber ein Novum im zweiten kontinentalen Klubwettbewerb darstellen. Und dessen fünf Europapokaltitel in elf Spielzeiten nur durch jeweils sechs Siege von Real Madrid (1955–1966) und Liverpool (1973–1984) übertroffen werden.

Einem Liverpool, das bei seiner 1:3-Niederlage nach starker erster Halbzeit von der Sevillaner Liebeskunst letztlich brutal gehörnt wurde. „Wir haben keine Reaktion gezeigt, das ist das Schlimmste“, sagte Kapitän James Milner über eine zweite Halbzeit, für die auch Trainer Jürgen Klopp nach seiner fünften Finalniederlage in Serie spontan keine andere Erklärung fand als die Jugend seiner Mannschaft. Wie ausgerechnet ein Verein, der Comebacks zum Markenkern erhob (zuletzt im Viertelfinale gegen Dortmund), nach Sevillas Ausgleich aber nicht eine Torchance herausspielte – es wird für immer ein Rätsel dieser Nacht bleiben.

Stoff für Legenden

Die umgekehrte Frage hingegen konnte geklärt werden: Wie hatte Emery bloß diesen Turn­around hinbekommen? Kaum ein Trainer versteht sich ähnlich auf die Kunst entscheidender Eingriffe in laufende Spiele wie der 44-jährige Baske. Mal mit einer taktischen Umstellung, mal mit einer überraschenden Auswechslung. Diesmal durch eine flammende Rede, die schnell zum Stoff für Legenden wurde. „Wir haben einen Trainer, der in der Lage ist, Tote zum Leben zu erwecken“, berichtete Monchi von seinem Halbzeitbesuch in der Kabine. „Unai hat ganz wundervolle Sachen gesagt. Dass die Spieler sich wie zu Hause fühlen sollen. Dass das hier unser Estadio Sánchez Pizjuán ist.“

Emery lag damit zum einen gar nicht so falsch, denn halb so viele Spanier machten im „Joggeli“ oft mehr Lärm als doppelt so viele Engländer. Aber vor allem entwarf er die richtige Autosuggestionsstrategie für eine heimstarke Mannschaft, die in der gesamten spanischen Ligasaison kein einziges Auswärtsspiel gewonnen hat. Sevilla musste nur daran glauben, den Rest erledigten Erfahrung und Klasse eines Teams, das die Richtungswechsel großer Europapokalpartien zu handhaben weiß wie wenig andere. „Das Mentale führte zum Taktischen“, resümierte Emery sein Werk.

Die Europa League ist die „zweite Frau der Sevillistas“, sagt der Trainer, Unai Emery

Vollendet wurde es durch zwei Tore des unwahrscheinlichen Helden Coke. Der Außenverteidiger, im Finale als Außenstürmer aufgeboten, ist kein herkömmlicher Fußballer. In seiner Freizeit spielt er Theater, in seinem Job ist er bisweilen so unglamourös, dass ihn manche Fans für untauglich halten. „Der Fußball war heute gerecht mit ihm“, sagte Mitspieler Vicente Iborra. „Er ist ein Typ, der arbeitet, ein Leader, ein Klubmann, einer, der da ist, wenn du ihn am meisten brauchst.“ Coke selbst hob die „menschliche Qualität“ der ganzen Mannschaft hervor. „Andere Vereine schlagen uns beim Etat, keiner beim Herzen.“

Kreuzende Fregatte

Die nächste Chance zur Beweisführung wartet schon am Sonntag. Dann trifft Sevilla im spanischen Pokalfinale auf Meister FC Barcelona, dem es im Sommer auch im nationalen Supercupfinale begegnen wird. Es war auch eine Demonstration der Klasse des spanischen Fußballs. Von den Luxuskreuzern Real und Barça über das Champions-League-U-Boot Atlético bis zur unzerstörbaren Europa-League-Fregatte Sevilla – die Teams sind so breit gestreut wie die Qualitäten des spanischen Fußballs. Er stellt die technisch besten Spieler, die taktisch versiertesten Trainer, und er profitiert von der Überzeugung, die nur Siege geben können: dass der nächste Sieg ganz bestimmt kommen wird. Präsident José Castro definierte in der Nacht von Basel die Suprematie seines eigenen Team so: „Zwei spielen gegeneinander und am Ende gewinnt immer Sevilla.“

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