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Die Karnickel in der Dystopie

Bühne Werkstatt für die Zusammenarbeit von Autoren, Regisseuren und Schauspielern: Nicht zuletzt wegen der verführerischen Offenheit der Textformen ist man froh um den Stückemarkt beim Theatertreffen

von Katrin Bettina Müller

Die Karnickel spielen mit. Sie hoppeln, groß und fett, klein und jung, ungerührt von den grünen und pinkfarbenen Perücken der SchauspielerInnen über den Rasen hinter ihnen, während Marie-Lou Sellem grade die Rolle einer Schwangeren spricht, die ihr Kind nicht zu Welt bringen will. Und der Geist von Fritz Bornemann, Architekt des Hauses der Berliner Festspiele, spielt eigentlich auch irgendwie mit bei diesem Stückemarkt während des Theatertreffens. Erlaubt doch seine großzügige und lichtvolle Architektur, das Publikum in der Kassenhalle mit Blick in den Garten zu positionieren.

Es regnet am späten Nachmittag. Aber weil das bei der Vorbereitung der szenischen Lesung von Pat To Yans Text „A Concise History of Future China“ nicht unbedingt vorhersehbar war, ist auch Kunstregen vorbereitet, als Flasche auf einem Schirm und als rinnendes Wasser über den großen Fenstern, durch die das Publikum auf die Schauspieler sieht. Ein Aquariumseffekt, der vorzüglich passt in diese fremde und skurrile Stimmenlandschaft. Später gibt es zur Freude aller eine kurze Regenschirm-Choreografie draußen. Derweil steht das Bühnenpodest innen vor dem Fenster voller Boxen, die nach und nach die verschiedensten Perücken übergeworfen bekommen. Stellvertreter von Stimmen, von Körpern, von Verwandlungen.

Pat To Yan, dessen Stück die deutschen Schauspieler auf Englisch lesen, das Skript in der Hand, ist 1975 in Hongkong geboren und lebt heute in London. Auch die Figuren seines Stückes waren einmal Autoren, die Erinnerungen erfanden, für Roboter etwa. Manche der Figuren, wie die „white bone lady“ oder „der Mann, der Zeuge der Schmerzen“ ist, erzählen in ihren Monologen auch von Verwandlungen, in Spinnen zum Beispiel. Des Weiteren treten schlecht gelaunte Kakerlaken auf, die sich als Erbauer und Herren der jetzt in Ruinen liegenden Städte begreifen.

Fünf Texte präsentiert der Stückemarkt in solchen szenischen Lesungen und lässt die Autoren, die in Dänemark, Deutschland, Kroatien, Slowenien und Großbritannien leben, zudem weitere Stückideen vorstellen und diskutieren. Zur Jury, die ihre Texte auswählte, gehört die Autorin Kathrin Rögg­la. „Und doch hat es mich regelrecht überrascht, dass ich am Ende immer wieder über den Begriff der Ungleichzeitigkeit nachdenken musste, der Überlappung und Ineinanderführung von Zeitebenen“, kommentiert sie im Programmheft, dass sich dann doch erstaunliche Verbindungen zwischen den Texten entdecken lassen. Um gefälschte Erinnerungen geht es zum Beispiel nicht nur in der surrealen Dystopie von Pat To Yan, sondern auch bei Simone Kucher.

Deren Stück „Eine Version der Geschichte“ erzählt eine Familiengeschichte und von einer Recherche. Lusine und ihr Bruder Sammy, aufgewachsen in Deutschland und in den USA, entdecken, dass ihre armenischen Großeltern der Vertreibung der Armenier und dem Völkermord an ihnen viel näher waren, als die Familiengeschichte erzählt. Was sie mehr noch als die türkische Politik der Verdrängung dieser Geschichte bestürzt, ist die Weigerung ihrer Mutter, darüber zu reden. Die Familie, in viele Städte zerstreut, begegnet sich oft nur kurz und wird sich immer fremder, während sie an den Rändern dessen entlang balanciert, was in den Worten ausgelassen wird.

Der Stückemarkt ist durch die Nähe zu den SchauspielerInnen ein Vergnügen

So wichtig das Thema von Simone Kuchers Text ist, es blieb doch der Eindruck eines didaktischen Auftrags zurück. Der Regisseur Hans-Werner Kroesinger, der auch zur Jury gehörte, hat selbst gute Recherche­stücke zur Geschichte der Armenier und der deutschen Verantwortung für den damaligen Völkermord erarbeitet.

Wie man junge Autoren am besten fördert, wie weit sich der Stückemarkt auch nicht deutschsprachigen Autoren öffnet, ob auch kollektive Stückentwicklungen eingereicht werden dürfen; alle diese Fragen haben den Stückemarkt in den letzten Jahren beschäftigt, umgekrempelt, geöffnet. Er war schon immer auch Werkstatt für die Zusammenarbeit von Autoren, Regisseuren und Schauspielern.

Für die Zuschauer aber, und daran hat sich nichts geändert, ist er durch die Nähe zu den SchauspielerInnen ein Vergnügen. Darunter waren diesmal Anne Ratte-Polle, Aleksandar Radenkovic, Felix Römer und Taner Sahintürk, die sonst an verschiedenen Bühnen spielen. Man sieht ihnen einfach gerne zu, wie sie mit dem Text in der Hand die Sprache befühlen, sich reinlegen in Sätze oder grade ihre Fremdheit ausstellen. Dass etwas noch nicht fertig ist, offene Baustelle, birgt auch Entlastung. Nicht zuletzt wegen dieser verführerischen Offenheit der Form ist man froh um den Stückemarkt beim Theater­treffen.

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