: „Kinder spüren diese Scham“
Schweigen Kinder von Opfern des Holocaust leiden unter dem Trauma ihrer Eltern, auch wenn diese nicht darüber reden, sagt die Psychologin Angela Moré
61, ist Gruppenanalytikerin und Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz-Universität Hannover. Sie forscht unter anderem zur Transgenerationalität.
INTERVIEW Lena Kaiser
taz: Frau Moré, was ist ein Trauma?
Angela Moré: Bei einem psychischen Trauma handelt es sich entweder um ein einzelnes Erlebnis oder um eine über einen längeren Zeitraum erlittene Erfahrung, welche die psychischen Abwehrmechanismen so massiv überfordert, dass diese nicht mehr in die Lebensgeschichte integriert werden kann, sondern isoliert werden muss, weil es eine zerstörerische Wirkung auf das psychische Selbsterleben bekommt.
Welche Spuren hinterlässt das Trauma von Eltern bei Kindern?
Im Erleben der Nachkommen tauchen innere Bilder oder Gefühle auf, die nicht zugeordnet werden können. In der Regel wissen Kinder oder Enkel erst einmal nicht, dass ihre Wahrnehmungen und Empfindungen etwas mit dem Schicksal ihrer Eltern zu tun haben könnten. Sie fühlen sich irgendwie komisch und fremd sich selbst gegenüber. Oder sie haben das Gefühl, unbedingt irgendetwas tun zu müssen. Aber sie verstehen nicht, warum.
Wie lässt sich das verstehen?
Im Forschungsprojekt „Szenisches Erinnern der Shoah“ haben Kurt Grünberg und Friedrich Markert solche Fallbeispiele untersucht. Sie haben sehr interessante Interviews mit Überlebenden des Holocaust und ihren Nachfahren gemacht. Dabei hat sich gezeigt, dass Kinder es häufig gar nicht merken, wenn sie bestimmte Erlebnisse reinszenieren. Aber die Eltern merken in einigen Fällen durchaus, dass das Verhalten ihrer Kinder etwas mit der eigenen unerträglichen Geschichte zu tun hat.
Macht das Erlebte Eltern sprachlos?
Sprachlos nicht nur in dem Sinne, das etwas nicht benannt werden kann. Es gibt eine Angst darüber zu sprechen, weil es dann nicht kontrolliert werden kann. Und weil dadurch die Situation wieder aktualisiert wird. Wie soll man das, was Menschen im Holocaust erlebt haben, in Worte fassen. Jeder, der das erlebt hat, sagt, dass die Worte nicht an das Erleben heran reichen und die Sprache an ihre Grenzen kommt. Eine Textsammlung von Hans Keilson, selbst ein Schoah-Überlebender, trägt den Titel „Wohin die Sprache nicht reicht“.
Wie werden denn Traumata an die nächste Generation weitergegeben?
In der Regel kann ein extremes Trauma, das durch die absichtliche Bedrohung und Schädigung durch andere Menschen entsteht, nicht integriert und verarbeitet, aber auch nicht darüber gesprochen werden im Sinne einer Narration. Es kann der nächsten Generation also nicht erklärt werden, was passiert ist. Stattdessen wird es im familiären Zusammenleben unbewusst in Szene gesetzt, reinszeniert und durch Affektmitteilung und Körpersprache, zum Beispiel durch Flashbacks, Erschrecken und ängstliche Blicke oder unkontrollierte Emotionen sequentiell weitergegeben.
Wie ist das bei KZ-Überlebenden und ihren Kindern?
Die sehr tiefe Beschämung trägt dazu bei, dass Eltern nicht darüber reden können, dass sie gedemütigt, entwürdigt und zu Opfern gemacht wurden. Kinder spüren auch etwas von dieser Scham, der Demütigung und der Wut. Sie wollen kraftvoll sein, um das Leid der Eltern und die ihnen angetane Schmach auszugleichen, wieder gut zu machen. Bei Folteropfern gibt es ähnliche Versuche, den Eltern gerecht zu werden. Das hat auch etwas von einer Parentifizierung.
… das heißt von einer Umkehr der sozialen Rollen zwischen Elternteilen und ihrem Kind. Wozu?
Um sich um die Eltern zu kümmern, ihnen einen Halt und Trost zu geben. Damit verbunden sind auch unbewusste Delegationen von Seiten der Eltern.
Ist auch das Verhältnis der Täter zu ihren Kindern psychoanalytisch beleuchtet worden?
Über Täter hat man kein therapeutisches Material, weil sie sich nie in Therapie begeben haben. Davor hatten sie viel zu viel Angst. Außerdem hätte es bedeutet, Schwäche einzugestehen. Aus der NS-Ideologie gab es eine enorme Diffamierung gegenüber jeglicher Form der Psychotherapie. Das wurde ja mit dem Verrücktsein gleichgesetzt.
Wie wirkt sich dieses Unvermögen aus?
Manche Täter haben als Kriegsteilnehmer selbst Traumatisches erlebt. Viele haben das nach dem Krieg durch Alkohol oder Medikamente zu lösen versucht. Aber oft waren sie im Alter nicht mehr in der Lage, diese Konflikte wegzuschieben, weil die körperlichen und psychischen Abwehrkräfte irgendwann nachlassen.
Was ist der Antrieb für diese Verdrängung?
Die Täter haben geschwiegen, um die Fassade zu wahren. Sie waren nicht bereit, zuzugeben, dass sie vielleicht vergewaltigt und gemordet haben, bevor sie aus dem Krieg zurückkamen.
Woran zeigt sich heute noch die deutsche Geschichte bei Patienten?
Wir haben es heute mit der Enkelgeneration zu tun und die ist diejenige, in der die von der Weitergabe eines transgenerationalen Erbes Betroffenen entdecken und darüber erstaunt sind, dass viele von ihnen das Gefühl hatten, etwas in sich zu tragen, das nicht zu ihnen gehört: einen Fremdkörper, fremde Gefühle und Fantasien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen