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Das Leben der Anderen

Oderbruchliteratur Von Kastanien, Miniermotten, Rosen und Schneeglöckchen. Von Neutrebbiner Nachrichten aus einem parallelen Universum, der freiwilligen Feuerwehr und der Frage, wie nahe einem, der eigentlich nicht dazugehört, die Nachbarn sein können

von Holger Brüns

Eben war noch alles grau und plötzlich scheint die Sonne. Der Himmel ist hell und blau und das Thermometer klettert auf 18 Grad. Wo vor Kurzem noch das Sitzsackdrinnen war, ist jetzt Draußen und Aktivität. Die Überreste des Herbstlaubs verbrennen. Die Rosen auspacken. Eine Bestandsaufnahme dessen, was den Winter nicht überlebt hat. Die weißen Schneeglöckchen lösen die gelben Winterlinge ab, die Blausterne und Perlhyazinthen bilden blaue Flecken auf der Wiese. Der Lebensraum beschränkt sich nicht mehr auf das Haus, verlässt den Schutz der Mauern und Dächer. Die Welt wird weit und offen. Und jedes Jahr wieder, das Wunder des Neubeginns. Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, denn natürlich habe auch ich längst begriffen, dass sich die Dinge wiederholen, sich nicht linear vorwärtsbewegen, sondern in Zirkeln und Kreisen. Ich weiß, wohin all die Blüten führen: zu Kastanien und zu Miniermotten, zum Laubverbrennen und zum Herbst. Aber doch, da beginnt etwas Neues, vielleicht zuerst noch unklar und verschwommen …

… aber dann stehen da plötzlich blühende Bäume auf der Wiese. Und wenn es wahr ist, dass der Winter ein Grafiker ist, dann ist der Frühling ein Impressionist.

Es gibt viele Versuche, das Immmergleiche im Immerneuen zu finden, Ewigkeit zu denken, sei es religiös oder philosophisch. Ich freue mich wie ein kleines Kind über jede Blüte, über jeden Samen, der aufgeht: „Ja, jetzt geht’s los, jetzt fängt etwas Neues an“. Typisches Frühlingsgefühl. Gut, manchmal auch ein Neujahrsgefühl, manchmal auch an meinem Geburtstag, manchmal auch – na zumindest ist es ein Gefühl, das mir sehr wichtig ist.

Aber es gibt auf dieser Welt nicht nur mich und meine Welt. Auch wenn der Aufenthalt hier allein, zwischen Feld und Horizont, manchmal zu dieser Annahme verführt und durchaus Teil des Erholungsprogramms ist. Es gibt verschiedene Welten, unterschiedliche Galaxien und parallele Universen – und es gibt, einmal im Monat, die Neutrebbiner Nachrichten. Vier Seiten für Neutrebbin und Umgebung – so altmodisch, dass ich sagen möchte: hektografiert. Dabei sind es natürlich nur ganz normale, doppelseitig kopierte DIN-A3-Blätter. Herausgegeben werden die Seiten von einer Frauenredaktion. Diese Blätter alleine sind schon ein paralleles Universum – Begrüßung der Neugeborenen, Glückwünsche zu Hochzeit und Geburtstag, kleine Anekdoten aus dem Dorfleben, Ankündigungen und Bekanntmachungen.

Die Bekanntgabe des „Schandflecks des Ortes“ ist vor einiger Zeit eingestellt worden – lange lebten wir in der Sorge, dort einmal erwähnt zu werden. Eine krasse Fehleinschätzung unsererseits. Wir liegen nicht nur außerhalb des Dorfes, wir spielen in der Wahrnehmung des Dorfes auch einfach keine Rolle.

Neu aufgenommen sind dagegen die Gespräche der Frau Genugweiß und der Frau Gescheid: „Leute haben immer was zu meckern … aber: das ist auch gut so!!!“ 15-jährige Mädchen, die in der Öffentlichkeit rauchen, Autofahrer auf Radfahrwegen, die Mittagsruhe, Hundekot und ähnliche Themen werden hier verhandelt. Es ist, glaube ich, das, was der Bürgermeister meint, wenn er in einem Grußwort schreibt: „Deshalb freue ich mich sehr, wie viel Gemeinsinn es in unserem Ort gibt.“ Wobei mir öfter das gemein auffällt und er meist den Sinn meint.

Doch darüber wollte ich gar nicht schreiben. Was mich diesmal aber in das parallele Universum schoss, waren die Geburtstagswünsche für K. , der sein Leben der Freiwilligen Feuerwehr widmet – hier folgt die Aufzählung seiner Laufbahn: Verheiratet; liebevoller Vater einer 14-jährigen Tochter; schon als Jugendlicher „junger Brandschutzhelfer“; nach der Wende belegte er Lehrgänge zum Truppmann, zum Truppführer, zum Gruppenführer und 2006 zum Zugführer; seit 2006 Wehrführer der Ortsfeuerwehr; 2009 Lehrgang zum Ortswehrführer; aktueller Dienstgrad: Oberbrandmeister. Und das alles in ehrenamtlicher Tätigkeit! „Schon als Kind wollte er Eisenbahner werden. Und diesen Wunsch hat er sich nach der Schule auch erfüllt. Er arbeitet hauptamtlich bis heute bei der Deutschen Bahn.“ Und K. feiert seinen 40. Geburtstag.

Wir alle haben unsere Wünsche, Träume und Bedürfnisse. Danach richten wir unser Leben ein. Oder wir versuchen es zumindest, unser Leben danach einzurichten. Und an manchen Tagen gehe ich davon aus, dass wir alle irgendwie die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben. Oder sagen wir, zumindest ähnliche Wünsche und Bedürfnisse. Doch dann gibt es so Tage wie heute, an denen ich das Gefühl habe, zwischen mir und K. liegen mehrere Galaxien. Und ich bilde mir tatsächlich ein, irgendetwas von dem Leben dieser Anderen zu verstehen?

Vielleicht ist der Trugschluss auch der, dass ich an manchen Tagen glaube, ich würde das Leben anderer Menschen verstehen, nur weil es mir näher ist, weil ich die Umgebung kenne, die Zusammenhänge, in denen sie leben, mir nachvollziehbarer erscheinen – und nicht so exotisch wie das Leben K.s. Die Frage, was jetzt im Sinne der Mehrheitsgesellschaft exotisch ist, lassen wir mal dahingestellt.

Natürlich kann ich mir K.s Wohnung vorstellen. Ich könnte sogar hingehen, sie mir anschauen. Ich könnte sie wie ein Szenograf nachbauen.

Aber habe ich damit schon irgendetwas verstanden? Weiß ich dadurch einen Deut mehr über sein Leben? Hat „kennen“ nicht in erster Linie etwas mit „sich vorstellen können“ zu tun? Damit, dass ich mir vorstellen kann, was jemand mag, was jemanden ärgert, wovor er Angst hat, worüber er sich freut? Und kann dieses Vorstellen jemals mehr als eine Annäherung sein?

Gut, das sind jetzt so pseudophilosophische Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich im Abendlicht über die Felder schaue. Aber irgendetwas hat mich an dem Leben von K. noch ganz anderweitig beeindruckt. Es hat einen zweiten Landaufenthalt gebraucht, um zumindest annähernd herauszufinden, was das wohl ist. Was ist es eigentlich, was ich als so fremd, so galaktisch weit entfernt von meinem Leben empfinde?

Aber immer noch berührt mich die Lust des Anfangens, etwas Neues zu beginnen

Da ist jemand, der hat seine Leidenschaft (die Feuerwehr), hat seinen Beruf (die Eisenbahn), hat seine Familie, lebt seit 40 Jahren im selben Dorf. Da weiß jemand, was er will, da lebt einer in seiner vertrauten Umgebung, ist in ihr verwurzelt, und diese Beständigkeit ist (auch) eine Qualität.

Mein Leben hingegen ist immer noch ein Entwurf. Immer noch habe ich das Gefühl, jederzeit könnte sich etwas ändern, ich könnte jeden Tag einen ganz neuen Weg gehen. Ich könnte jederzeit beschließen, in ein anderes Land zu ziehen, einen neuen Beruf zu ergreifen, eine neue Leidenschaft zu pflegen. Das ist natürlich Illusion. Viele Richtungen sind schon bekannt, manche Wege schon gegangen und mit fast 50 kann man ja nicht mehr von Entwurf sprechen. Aber immer noch berührt mich die Lust des Anfangens, etwas Neues zu beginnen. Die Beständigkeit und Geradlinigkeit des K. werde ich nie erreichen. Und an 98 Prozent aller Tage ist das auch gut so.

Ovid lässt in seinen Metamorphosen den Pythagoras sprechen. Er sagt: „Es ist nichts in der ganzen Welt, was Bestand hat. Alles fließt, es bildet sich wechselnd jede Erscheinung. Selbst die Zeit, auch sie entgleitet in steter Bewegung – gleich wie der Fluss. Denn es kann der Fluss nicht stehen, und nicht stehen die flüchtige Stunde. Und wie von der Welle die Welle gejagt wird, wie von der kommenden gedrängt, sie die vorige drängt, so flieht und verfolgt zugleich auch die Zeit, und doch ist sie immer neu; denn, was vorher gewesen, es ist vorbei, und es wird, was niemals gewesen; und all das Bewegen erneuert sich.“ In Polleschs „L’Affaire Martin“ spricht Sophie Rois in der Rolle des Florian Henckel von Donnersmarck sinngemäß den schönen Satz: „Mit Schlesien holt man heute keinen Menschen mehr hinter dem Ofen hervor, also muss ich, wenn ich einen Film machen will, einen Film über das Leben der Anderen machen – aber was soll das bloß sein, das Leben der Anderen?“

Da habe ich nun den Ovid zitiert, als Beispiel, wie man alles mit allem versöhnen kann. Alt und neu, Beginnen und Aufhören und so weiter. Alles eins. Das verstehe ich und dem kann ich mich in weiten Teilen anschließen. Wenn ich aber so ganz tief in mich hineinhöre, wenn ich versuche herauszufinden, ob ich an solche philosophischen oder religiösen Antworten überhaupt glauben kann, dann gucken mich Kinderaugen an – wie gesagt, das ist jetzt ganz tief in mir drin und in gar keinem Fall irgendwie durchdacht – dann gucken mich Kinderaugen an, die nichts wissen von parallelen Universen und fremden Lebensgalaxien und sie fragen mich immer wieder: „Was soll das bloß sein, das Leben der Anderen?“

Frühjahr 2012

Dieser Text von Holger Brüns ist im „Oderbruchbuch – Aufzeichnungen aus dem ereignislosen Leben“ (Verbrecher Verlag 2016) erschienen. Es ist eine der dort versammelten Geschichten aus einer Landschaft am östlichen Rand Deutschlands.

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