: Sich gegenseitig zuhören
CROSSOVER Das Festival Lillenorge bringt europäische Kammermusik und experimentelle Remixes mit Leichtigkeit auf eine Bühne – und zeigt dabei: Auch in Berlin sind NorwegerInnen perfekte Gastgeber
von Franziska Buhre
Verstehe eineR dieses Land: Seit Jahren belegt Norwegen Platz eins von 188 Ländern auf dem Index für humane Entwicklung der Vereinten Nationen, der den Wohlstand anhand von Indikatoren wie Kaufkraft, Lebenserwartung, Bildungsgrad oder Geschlechtergleichheit ermittelt. Und das sowohl unter einer sozialdemokratischen Regierung als unter einer christlich-liberal als auch unter der seit 2013 regierenden konservativ-rechtspopulistischen Koalition.
Norwegen ist kein Mitglied der EU, leistet sich nach wie vor den Walfang, übernahm aber auch die Bau- und zur Hälfte die Betriebskosten des weltweiten Saatguttresors in Spitzbergen, in dem zur Erhaltung der globalen Kulturpflanzenvielfalt knapp 865.000 Samenproben eingelagert sind. Führende musikalische Exportschlager sind derweil vor allem Bands der Black-Metal-Szene, daneben sorgt aber auch die Vielfalt der Jazzszene seit den 1980er Jahren für weltweites Aufsehen.
Inzwischen gibt es zahlreiche genreübergreifende Festivals in Norwegen, die Jazz, elektronische Musik, Klassik und Volksmusik in einem Programm präsentieren. Die Pianistin Gunilla Süssmann vermisste diese Offenheit in Deutschland und machte sich deshalb vor zwei Jahren an den Plan für ein Festival, das klassische europäische Kammermusik mit dem sogenannten Nordic Sound von ImprovisationsmusikerInnen aus Norwegen in Berlin zusammenbringt.
„Die Entwicklung der Improvisationsmusik in Norwegen ist einzigartig“, schwärmt Süssmann am Telefon aus Weimar, wo sie seit 2011 lebt. „Diese eigene Sprache basiert auf einer Idee von Offenheit, sich gegenseitig zuzuhören und musikalisch aufeinander zu reagieren.“ So werden, anders als in der klassischen Musik üblich, Kompositionen weiter entwickelt. „Wir differenzieren Qualität nicht durch Genres, sondern möchten eine andere Art von Hör-Erfahrung ermöglichen.“
Die erste Ausgabe von Lillenorge, „Klein-Norwegen“, lädt mit 18 Konzerten an vier Tagen dazu ein, ganz unterschiedliche Klangfarben und -landschaften zu entdecken und auch zu erleben, wie norwegische Musiker komponierte Musik anschließend mit akustischen und elektronischen Instrumenten in Live-Remixes interpretieren. Dieses Konzept geht auf Jan Bang zurück, der 2005 in der südnorwegischen Stadt Kristiansand das Punkt-Festival gründete und der nun auch bei Lillenorge auftritt. Beim Punkt-Festival spielt erst eine Gruppe akustischer Instrumentalisten, anschließend wird ihre Musik von anderen Ensembles und elektronischen Musikern live remixt. Das Festival zieht inzwischen Experimental-MusikerInnen aus aller Welt an, Jan Bang und Erik Honoré, Mitbegründer von Punkt, brachten das Konzept bereits in Städten wie London, Paris, Amsterdam, Prag, Lyon oder Istanbul zur Aufführung.
Die Live-Remixes bei Lillenorge gestaltet Bang mit dem Trompeter Arve Henriksen und dem Schlagzeuger Audun Kleive, ihrerseits herausragende Vertreter der experimentellen Jazzszene in Norwegen. Das Trio spielt am Eröffnungsabend ein eigenes Konzert und zum Abschluss des Festivals gemeinsam mit allen anderen beteiligten MusikerInnen. Dazwischen beziehen sie sich an zwei Abenden auf fünf vorherige Konzerte mit kontrastreichen Werken europäischer Kammermusik aus drei Jahrhunderten. Gunilla Süssmann spielt zum Beispiel Klavierwerke von Arnold Schönberg, anschließend zwei kurze Kommentare zu diesen von der zeitgenössischen norwegischen Komponistin Maja Ratkje und dann mit ihrer langjährigen Duopartnerin, der Cellistin Tanja Tetzlaff, ein Stück von Jean Sibelius. Die norwegische Flötistin Wally Hase, die in Berlin lebt, spielt eine Uraufführung des Komponisten Marcus Paus, der ebenfalls hier zu Hause und von dem ein Streichquartett zu hören ist. Die Sängerin Tora Augestad, die gegenwärtig in Christoph Marthalers „Hallelujah“ an der Berliner Volksbühne zu erleben ist, beehrt den Eröffnungsabend mit Liedern von Edvard Grieg, Kurt Weill und John Dowland.
Und Ingfrid Breie Nyhus führt ihr Slåttepiano zum ersten Mal in Deutschland auf: Sie hat norwegische Volksmusik, die sonst auf der traditionellen Hardangerfiedel gespielt wird und nicht durch Noten tradiert wurde, aufgeschrieben und auf das Klavier übertragen. Die Komponisten Lasse Thoresen und Asbjørn Schaathun abstrahierten und transformierten die Volksmusik auf ihre eigene Art – Letzterer für Klavier und Live-Elektronik. Nyhus wird die beiden auf dem großen Konzertflügel im Kesselhaus der Kulturbrauerei unterstützen.
Ausdrücklich erwünscht sind Begegnungen der KünstlerInnen mit ihrem Publikum zwischen den Konzerten. Deshalb beginnt das Programm am Nachmittag, und nach jeder Aufführung können MusikerInnen und ZuhörerInnen für eine halbe Stunde miteinander ins Gespräch kommen. Bei der Gastfreundlichkeit der NorwegerInnen dürfte sich dieser Austausch mit Leichtigkeit ergeben. Auch der visuelle Rahmen der Konzerte ist mit Sorgfalt geplant: Tord Knudsen ist in Norwegen ein gefragter Lichtdesigner und Videokünstler, seine Live-Projektionen wie beim Punkt-Festival sind ein ästhetischer Genuss. Und wer Fan von Lillenorge wird, kann dem gleichnamigen Verein beitreten.
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