Gemeinschaft Vor zehn Jahren trafen wir uns als Studenten in Breslau. Der Kuss der Spanierin hat uns zu Europäern gemacht. Was ist davon übrig?
: Nach dem Fest

Geschichte: Das EU-Programm zum Studentenaustausch wurde 1987 nach dem Humanisten Erasmus von Rotterdam benannt, der in der Renaissance in sieben Ländern lebte. Das Programm ermöglicht Auslandsaufenthalte für Studierende, Universitätsmitarbeiter und Praktikanten in den 27 Ländern der EU, in Norwegen, Island, Liechtenstein und der Türkei.

Geld: Das Programm wird mit etwa 450 Millionen Euro im Jahr aus dem EU-Haushalt finanziert. Die StudentInnen erhalten einen Zuschuss, für Deutsche beträgt der zwischen 150 und 300 Euro im Monat.

Gewinn: Die Arbeitslosenquote bei Akademikern mit Auslandserfahrung ist um 23 Prozent niedriger. In einer Studie im Auftrag der EU-Kommission geben 27 Prozenten der ehemaligen Erasmusstudierenden an, sie führen eine Lebensbeziehung, die während des Auslandsaufenthalts entstand. Die EU schätzt, es gebe eine Million Erasmusbabys.

Protokolle Luise Strothmann
und Philipp Daum

Man sperrte uns in einen Turm, der Bleistift hieß, Ołówek. Sechzehn Stockwerke, für jeden ein Bett im Doppelzimmer. Portugiesen, Litauerinnen, Norweger, Österreicher. Sie wollten diese Stadt kennenlernen, dieses Land, die sieben Fälle des Polnischen. Oder sie hatten die Plätze in Malmö und Valencia nicht bekommen. Der Wodka war billig, es schwamm ein Grashalm darin, auf den angeblich ein Bison gepinkelt hatte.

63

Prozent der Einwohner von EU-Staaten fühlen sich als Bürger Europas. In Deutschland sind es 74, in Luxemburg 89, in Großbritannien 50 Prozent

Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission

Einige von uns hatten den Namen Wrocław zum ersten Mal in dem Brief mit der Zusage für einen Erasmusplatz gelesen.

29

Prozent der befragten Deutschen sagten während der Eurokrise im Jahr 2012, sie würden in einem Referendum für einen EU-Austritt stimmen

Quelle: Repräsentative Umfrage von Yougov

Wir lernten in Polen zu leben, kauften Bustickets für 25 Cent an kleinen Kiosken, bestellten in den Mittagskantinen Piroggi und fuhren zur Gedenkstätte nach Auschwitz. Aber es gab auch noch das Zuhause, wo wir Englisch sprachen, die Spanierin küssten und uns über Filme von Jim Jarmusch unterhielten. Wir lebten in Erasmusland. Oder darf man es Europa nennen?

49

Prozent der Europäer verbinden mit Europa vor allem die Freiheit, überall hinreisen und leben zu können. An zweiter Stelle steht der Euro

Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission

„Europa braucht eine Seele“, sagte der frühere Kommisionspräsident Jacques Delors einmal. Ihn beschäftigte, welche Erzählungen nächste Generationen noch an das Projekt Europa binden könnten. Wie entsteht eine europäische Identität? Fast 15 Jahre dauerte es von der Idee eines Austauschprogramms für europäische Studenten, bis es die EU-Staaten beschlossen. 3.200 Studenten gingen im ersten Jahr 1987 ins Ausland. Als wir 2006 nach Breslau zogen, waren es schon 160.000.

32

Prozent der EU-Bürger sagen, sie vertrauen der Europäischen Union. Ihrer nationalen Regierung vertrauen 26 Prozent

Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission

2006, das war eine Zeit, in der man unter Euroskeptizismus noch die Forderung verstand, man solle mit der Erweiterung mal bitte ein wenig langsamer machen. Griechenland war keine Vorsilbe von Krise und hinter dem Wort Brexit hätte man einen WC-Reiniger vermutet. 2016, in dem Jahr, in dem Breslau Kulturhauptstadt Europas ist, hat die EU ein Verfahren gegen die polnische Regierung eingeleitet. Europa scheitert dabei, Flüchtlinge zu verteilen, und dealt mit der Türkei. Im Zentrum von Brüssel, in der U-Bahn, mit der Jacques Delors früher durch die Stadt fuhr, wird eine Bombe gezündet.

Zehn Jahre nach unserer Zeit in Breslau habe ich Menschen aus der Clique von damals wiedergefunden. Mein Kollege Philipp Daum und ich haben nach ihren Geschichten gefragt, danach, wie die Monate in Breslau ihr Bild von der EU geprägt haben. Und wie sich dieses Bild verändert hat. Was also geblieben ist von Europa.

Prager Frühling in der WG

Ich hatte in Breslau eine Affäre mit einer Polin. Weihnachten verbrachte ich bei ihrer Familie. Ihr Vater zeigte mir die Fabriken, wo in den 80er Jahren die Streiks der Arbeiter blutig niedergeschlagen worden waren. Er hatte dort als Arzt Verwundete gepflegt und Tote gesehen. Er sagte, wir haben hart für unsere Unabhängigkeit gekämpft. Und wir werden sie nicht einfach einem europäischen Superstaat abtreten. Unabhängigkeit verkauft man nicht für Wachstum. Was sollte ich ihm sagen?

In Belgien sind viele sehr proeuropäisch, ich war das auch. Vor Breslau, glaubte ich, die Völker würden einfach immer weiter zusammenwachsen. Wenn man nicht mit anderen Leuten redet, dann merkt man nicht, dass es dagegen eine Opposition gibt.

Mein Optimismus hatte allerdings schon erste Risse bekommen, als die Franzosen und Niederländer im Jahr 2005 die europäische Verfassung ablehnten.

Mit meinem Mitbewohner aus Ungarn habe ich über den ungarischen Aufstand 1956 geredet, über den Prager Frühling, über Solidarność, die Versuche, von der übermächtigen Sowjetunion loszukommen, die Kämpfe für Unabhängigkeit. Für ihn war die EU ein sehr loser Staatenbund. Ein Mittel, damit Nationalstaaten besser zusammenarbeiten. Kein Schritt auf dem Weg zu einer Europäischen Föderation.

Ich bin europäischer geworden. Aber auf eine andere Art. Man kann beste Freunde sein, ohne im selben Haus zu wohnen.

Zurück in Belgien habe ich als Attaché bei einem Berufungsgericht für Asyl gearbeitet – für einen Richter, der entschieden hat, ob die Antragssteller gemäß Genfer Konvention politisch verfolgt sind. Wir haben 98 Prozent der Anträge abgelehnt, es geht ohnehin jeder in Berufung. Man schickt sie nicht in ein Flugzeug, das ist eine andere Entscheidung. Die meisten bleiben im Land und finden andere Wege.

Bei den Anschlägen vom 22. März in Brüssel lag ich krank zu Hause im Bett, Grippe. Die Angriffe werden von den meisten hier als belgisches Problem wahrgenommen, die Attentäter wurden in Brüssel geboren. Allerdings sind viele Leute wütend darüber, wie leicht diese Männer aus Syrien einreisen konnten. Sie machen Angela Merkel dafür verantwortlich. Die Anschläge könnten die Europäer näher zusammenbringen, weil sie zeigen, was wir gemeinsam haben und was uns von denen unterscheidet, die uns attackieren.

Joren Vermeersch, Belgien

Damals: studierte International Law in Gent, Vilnius und Breslau

Heute: 34, Redenschreiber für den belgischen Staatssekretär für Asyl und Immigration, verheiratet, zwei Kinder

Europa ist ein Baby

Nach Polen gingen die Studenten, wenn sie ihr Wunschziel nicht bekommen hatten. Viele wollten in ihrer Erasmuszeit eigentlich woanders hin. Die Deutschen in Breslau nicht. Die haben sich für das Land interessiert, die Geschichte. Zweiter Weltkrieg, Konzentrationslager, die Wende. Gauthier und ich haben uns in Breslau kennen gelernt, er hat mir von dem Deutschen-Klischee erzählt. Wir waren die Fleißigen, die am schnellsten Polnisch konnten.

Im Zentrum von Breslau steht ein 16-stöckiges Hochhaus. Da stecken sie alle Erasmusstudenten rein. Kaum ein Einheimischer wohnt dort. Ich war enttäuscht. Aber irgendwann dachte ich, gut, so lerne ich Europa kennen. Heute habe ich überall Bekannte und Freunde, manche sehe ich regelmäßig, andere ab und zu, für alles Weitere gibt es Facebook. Erasmus hat das, was ich über Europa im Kopf hatte, lebendig gemacht.

Gauthier kannte ich aus dem Wohnheim, ich mochte ihn supergerne, war aber nicht verliebt. Das ist erst spät passiert. Wir waren in Rostock, bei dem Protest gegen den G-8-Gipfel. Ich flirte mit einem Typen, plötzlich umarmt mich Gauthier und sagt: „Redest du mit meiner Freundin?“ Der Typ ist natürlich abgehauen. Gauthier hat dann mit einer anderen Frau geredet und sie geküsst. Ich bin beleidigt ins Zelt gegangen, er kommt rein und sagt, die Frau liege draußen und bewege sich nicht. Sie war betrunken. Wir haben sie ins Zelt getragen. Ich war noch angepisster. Und dann, irgendwie, haben wir uns geküsst.

Als Gauthier aus Breslau wegging, meinte jemand, wir würden heiraten und Kinder kriegen. Ich habe ihn ausgelacht.

Zuerst hatten wir eine Fernbeziehung, später habe ich bei Gauthier in Lille gelebt und danach sind wir nach Berlin gezogen. Im vergangenen Jahr haben wir geheiratet und seit November ist Léon da. Ein Erasmusbaby.

Wir haben einen Namen gesucht, den es in beiden Ländern gibt, der in beiden Sprachen ähnlich klingt, aber ein bisschen französischer. Wenn unser Kind in Deutschland aufwächst, dann soll es etwas Französisches haben. Léon trägt Gauthiers Nachnamen Six. Wir haben das ausgelost, ich finde es gut so.

Gauthier spricht Französisch mit Léon, ich Deutsch. Wir haben ein Buch darüber gelesen: „Zweisprachige Kindererziehung“. Jedes Elternteil soll in seiner Muttersprache mit dem Kind reden. Die Familiensprache soll die schwächere Sprache sein. Deswegen reden wir Französisch, wenn wir zu dritt am Tisch sitzen. Draußen sprechen sowieso alle Deutsch.

Sara Schlote, Deutschland

Damals: Politikstudentin, neun Monate gefeiert, in den letzten beiden Erasmuswochen verliebt

Heute: 32, lebt mit Gauthier, 31 und Léon, vier Monate in Berlin

Eine Heimat für Verräter

In Breslau war ich einer der wenigen, die grundsätzlich EU-kritisch dachten. Mein Land sollte sein Potenzial für sich nutzen und nicht der Europäischen Union beitreten, mit ihren Agrarquoten und Privatisierungen.

Ich lag falsch. Das Potenzial der Türkei war Islamismus, Konservatismus, Gewalt. Ich hätte nie gedacht, dass Erdoğan und diese ungeheuerliche Regierung so lange durchhalten. Vielleicht wäre eine Integration in die EU besser gewesen. Mittlerweile ist das undenkbar.

Als mein Studium anfing, wohnte ich in Istanbul bei meiner Familie. Keiner kann sich dort in dem Alter eine Wohnung leisten. Ich hing bei Freunden rum, auch in einem Wohnprojekt, in dem Hippies aus aller Welt gestrandet waren. Ein Freund erzählte mir vom Erasmusprogramm. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Partneruniversitäten: Lissabon oder Breslau. Erst wollte ich nach Portugal, aber ein Mitstudent bequatschte mich, es sei wichtig für ihn, dorthin zu gehen. Portugal oder Polen – egal, ich war 19 und noch nie in der EU.

Ich war baff, als ich das erste Mal an einem Zebrastreifen stand und die Autos tatsächlich angehalten haben. Ich assoziiere Europa mit dem Einhalten von Regeln. Man geht streng und ernsthaft mit Vorschriften um – aber auch mit Menschenrechten.

Seit etwas mehr als einem Jahr lebe ich jetzt in Griechenland. In der Türkei hatte ich als Journalist gearbeitet, auch bei den Geziprotesten im Jahr 2013. Eine islamistische Zeitung druckte ein Foto, auf dem ich mit ausländischen Freunden sprach. Sie schrieben unter das Bild, ich sei ein Verräter.

Ich wurde gefeuert und schrieb für kleinere linke Zeitungen. Harte Arbeit, oft bekam ich keinen Lohn. In Athen hatte ich ein Jobangebot, also ging ich dorthin.

Von außen wirkt die EU geeinter als von innen. Ich habe hier die Demonstrationen gegen die Euro-Politik mitbekommen. Europa gehört Deutschland und Frankreich – besonders Deutschland.

Die Tram, mit der ich zur Arbeit fahre, verbindet eine Flüchtlingsunterkunft mit dem Hafen, an dem Kleidung und Essen verteilt werden. Jeden Tag sehe ich Flüchtlinge. Mehr Afghanen momentan, weniger Syrer. In der Türkei nutzen viele Menschen Flüchtende aus. Sie setzen sie als billige Arbeitskräfte ein, Klamottenläden verkaufen Schwimmwesten, Immobilienbesitzer vermieten überteuerte Wohnungen. In Griechenland werden die Flüchtlinge besser behandelt. Jetzt sollen sie in die Türkei zurück.

Wenn in der Straßenbahn jemand Kurdisch redet, versuche ich, nach seiner Geschichte zu fragen. Diese Leute sind nicht viel anders als ich. Ich bin kein Kriegsflüchtling, aber ein Migrant in Richtung Europa bin ich auch.

Ulaş Gürşat, Türkei

Damals: studierte Medienwissenschaft

Heute: 29, lebt in Athen, hat neben der Arbeit als Journalist noch zwei Jobs im Webmarketing

Die USA lieben lernen

Früher dachte ich, in Europa ist alles besser. Die Regierungen sind klüger, die Menschen weltgewandt und mehrsprachig. George W. Bush war unser Präsident, er hatte zwei Kriege im Nahen Osten begonnen. Ich hatte einen Minderwertigkeitskomplex und ich war damit nicht allein. Damals gaben sich US-Amerikaner in Europa als Kanadier aus.

Ich komme aus Cary, North Carolina. Meine Heimatstadt kennen nicht viele. Breslau war so groß. Ich hatte noch nie einen Stadtbus gesehen, der dieses Ding in der Mitte hat, dieses Gelenk, das sich beugen lässt.

Ich hatte keinen Laptop, kein Handy, ich war nicht auf Facebook. Ich musste Leute treffen.

Mein Zimmernachbar im Wohnheim war Ulas aus der Türkei. Er wurde mein engster Freund. Wir feierten die ganze Zeit. Im Erasmuskosmos waren wir die Party Crowd. Wir hörten dieselbe Musik, Johnny Cash und Man or Astro-man?zum Beispiel. Ulas zog mit einem Stapel CDs ein. Wir hörten die auf einem tragbaren Player. Ein Lautsprecher ging kaputt. Aus Kopfhörern und Plastikflaschen bastelten wir uns neue.

Ein typischer Tag sah so aus: Ich schlief lange. Wir hingen rum, spielten Schach oder Magic. Manchmal kamen Leute mit Gitarren vorbei und wir machten Musik, ich hatte meine Rapperphase. Abends hingen wir wieder rum oder gingen in die Klubs der Innenstadt. Von meinen Seminaren und Vorlesungen in Soziologie habe ich etwa die Hälfte besucht.

In Europa war es den meisten Menschen egal, dass ich Amerikaner war. Ich hatte viele Unterschiede erwartet, aber es waren nur kleine, charmante. Europäer trinken Tee und bestellen im Restaurant Wasser mit Kohlensäure. Europäer reden mehr über Kunst und Natur, vor allem die Deutschen kamen mir sehr ökologisch vor.

Einmal fuhr ich nach Zittau und Görlitz, kurz hinter der deutschen Grenze. Alles kostete zehnmal so viel. Ich kannte Leute in Breslau, die verdienten fünf Zloty in der Stunde. Von Polen nach Deutschland zu fahren, ist etwas ganz anderes, als von North Carolina nach Virginia.

In Europa sind die Menschen stolz darauf, wo sie herkommen. Ich schäme mich auch nicht mehr für meine Herkunft. Ich war froh, wieder daheim zu sein, ich hatte Heimweh. In Europa meckern die Leute genauso über ihre Regierungen wie wir auch. So schlecht kann es bei uns nicht sein.

Glenn Setliff, USA

Damals: einziger amerikanischer Student in Breslau

Heute: 32 Jahre alt, IT-Manager, wohnt wieder in Cary, North Carolina, verheiratet

Im Rollstuhl nach Polen

Wäre der Unfall nicht passiert, hätte ich wahrscheinlich nicht studiert und nie Erasmus gemacht. Ich managte eine Lebensmittelfirma. Dann, mit 29, krachte ich auf dem Motorrad mit einem Auto zusammen. Ein Jahr lag ich im Bett, das rechte Bein hatte ich verloren. Mein Vater schlug vor, ich solle studieren, die Zeit nutzen. Ich probierte es und war überrascht über meine guten Noten. Aber ein Jahr später lebte ich immer noch bei meiner Familie und brauchte Hilfe beim Putzen, beim Kochen. Ich musste da raus.

In Breslau war ich der erste Austauschstudent mit körperlicher Behinderung. Das Erasmusbüro sagte, es gebe keine barrierefreie Wohnung für mich. Ich fuhr trotzdem, mit meinem Cabrio, 18 Stunden von Padua. Der Wagen war umgebaut, ich gab mit dem linken Fuß Gas. Ich ließ mein kaputtes Leben hinter mir. Die Freunde, die ich dabei beobachtet hatte, wie sie Familien gründeten. Ich war schon 33.

Sogar meinen Namen änderte ich. Ich habe einen italienischen Vater und eine anglo-indische Mutter, deswegen heiße ich Anthony. Ich wurde Antonio.

Breslaus Innenstadt war eine Baustelle. Es war eine Zeit des Umbruchs. Für die Leute waren Menschen aus Westeuropa noch etwas Besonderes. Sie waren neugierig. Heute muss man für dieses Gefühl Europa verlassen.

Im Wohnheim gab es auf jeder Etage einen großen Flur. Hier feierten wir. Irgendwann ging ich zu dem Besitzer der Bar gegenüber und schlug ihm eine wöchentliche Party vor. Ich druckte Flyer und klingelte an Hunderten Türen. Bringt eure Musik mit, ich spiele sie, sagte ich. Um zwölf Uhr war niemand da und man wollte mich wieder nach Hause schicken. Um kurz nach eins kamen die Spanier. Es wurden 300 Leute. Diese Partys gibt es noch immer.

Ich lernte laufen. Ich ging mit Krücken, am Ende konnte ich mit der Prothese frei gehen.

Ich bin kein Pessimist, auch nicht, was die EU angeht. Natürlich gehen in Italien Jobs verloren, einige möglicherweise an Polen. Aber das größte Erbe meiner Erasmuszeit ist, dass ich mich nicht gegen meine Brüder in der Türkei oder in Deutschland ausspielen lasse. Wenn ich allerdings hier mit Leuten über die EU diskutiere, muss ich es mit Sachargumenten versuchen. Erlebnisse kann man nicht teilen.

Nachdem ich mein Studium in Italien fertig hatte, ging ich zurück nach Breslau. Ich arbeitete in der Immobilienfirma eines Freundes. Als sie pleite ging, gab es Streit. Ich habe verstanden, dass es Quatsch ist, Sehnsüchte auf Orte zu projizieren nach dem Motto: Polen ist das beste Land der Welt. Die Leute dort sind Menschen wie überall. Und was du erlebst, hat vor allem mit dir selbst zu tun.

Ich ging zurück nach Italien, hier kenne ich die Sprache, die Kultur. Es ist ein Leben ohne große Überraschungen. Gerade mag ich es so.

Anthony Civolani, Italien

Damals: studierte Personalmanagement in Breslau

Heute: 43, lebt in Padua und verkauft Photovoltaiksysteme, besitzt in Breslau immer noch eine Wohnung

Ein Auto voller Pasta

Als ich 1999 im internationalen Büro der Universität Breslau anfing, war das gerade das zweite Jahr, in dem Polen am Erasmusaustausch teilnehmen konnten. Nach dem Studium war ich in England gewesen, als Kellnerin. Als ich das erste Mal mit dem Bus nach Südlondon hineinfuhr, war das wie in einem Film: All diese Leute in den kleinen Gassen, Leute aus Indien, schwarze Leute. So viele verschiedene Menschen hatte ich noch nie gesehen. Ich habe dieses Diverse vom ersten Moment an geliebt, auch später in meiner Nachbarschaft: die unterschiedlichen Gerichte, Akzente, Gerüche, Kleidungsstile. Als ich zurückkam, erschien mir Polen für einige Zeit farblos.

In England verdiente ich mehr als meine Eltern. Mit einem Kellnerjob, bei dem die Leute nett zu mir waren und Trinkgeld gaben. Zur selben Zeit arbeiteten Leute in Polen sehr hart und konnten sich nicht einmal einen Urlaub leisten.

Anfangs kamen ungefähr 30 Erasmusstudenten im Jahr nach Breslau. Niemand landete zufällig hier. Das waren Leute, die Polnisch studierten, viel über das Land wussten. Sie waren mutig, manchmal hielten ihre Familien sie für verrückt. Ein italienisches Paar brachte seine Tochter im Auto her. Der ganze Wagen war voller Pasta, die Eltern waren überzeugt, hier gäbe es keine. Heute kommen 400 Studenten im Jahr.

Ich bin immer noch mit einigen Studenten befreundet, am Besten mit Anthony aus Italien. Ich erinnere mich noch, wie ich mit ihm telefonierte, bevor er nach Breslau kam, der erste Student mit Behinderung. Er sollte mich an der Kathedrale treffen, damit ich ihn zum Wohnheim bringen kann. Egal wann. Um ein Uhr nachts kam die Nachricht, er sei da. Dann stand da dieser gutaussehende Italiener mit seinem Cabrio. Ich musste über mich lachen, weil ich mir einen bemitleidenswerten Menschen vorgestellt hatte.

Früher gab es sehr viel mehr polnische Bewerber, die ins Ausland gehen wollten, als wir Plätze hatten. Aber seit einigen Jahren bleiben manche Plätze leer. Es ist nichts Besonderes mehr, ins Ausland zu gehen. Studenten machen erst ihr Studium fertig und ziehen dann zum Arbeiten weg. Die Freizügigkeit ist Alltag.

Polen wird sich nicht abschotten können, obwohl manche Politiker das gerade gern hätten. Als ich kürzlich bei einer alten Frau vor einer Markthalle Osterdekoration kaufte, redete sie plötzlich darüber, wie sie sich vor Schwarzen fürchtet. Solche Begegnungen gibt es. Aber wir können nicht beides zugleich haben – die Vorteile der Einheit und die Unabhängigkeit.

Barbara Skałacka-Harrold, Polen

Damals: hat mal Jura studiert, wollte aber doch nicht Anwältin werden

Heute: 44, verheiratet mit einem Mann aus England, den sie dort kennen gelernt hat, zwei Kinder