piwik no script img

Lasst hundert Blumen blühen

PREMIERE Von Kassel lernen: Ihren Dokumentarfilm „Wenn ein Garten wächst“ versteht Ines Reinisch auch als Werbung für das urbane Gärtnern. Jetzt zeigt sie ihn Bremen und anderen norddeutschen Städten

von Wilfried Hippen

Da wird Getreide gedroschen – mitten in der Stadt! Die Ähren wuchsen auf einem nur wenige Quadratmeter großen Feld, das Korn reicht also höchstens für ein paar Brote. Aber ein paar Menschen können eben doch das essen, was sie selbst gesät und geerntet haben. Bei einer kleinen roten Frucht sind sich die urbanen Hobbygärtner selbst nicht ganz sicher: eine Chilischote? So etwas kommt hier, im nordhessischen Kassel vielleicht nicht ins Essen – aber es leuchtet so schön im Grün. Überhaupt gibt es viele idyllische Aufnahmen von Beeten, Gräsern, Blumen und reifendem Gemüse in dieser Dokumentation.

In einem Naturfilm wären dies eher banale, schon hundertmal gesehene Bilder, aber sie wurden eben mitten in Kassel gedreht und zu Beginn haben wir schon die öde Rasenfläche gezeigt bekommen, auf der dieser Garten angelegt wurde. Geschehen ist das im Jahr 2012 im Rahmen der Documenta, es handelt sich also im weitesten Sinn um Kunst: In Zusammenarbeit mit der Kasseler Universität wurde ein Gemeinschaftsgarten auf dem Huttenplatz in der Innenstadt initiiert, interessierte Anwohner konnten den Platz umgestalten, durchweg Laien, die sich als Nachbarn meist nur entfernt kannten – im ersten Teil des Films ist denn auch die Frage: „Wie heißt du nochmal?“ ein wiederkehrendes Motiv.

„Wenn ein Garten wächst“ zeigt den ersten Spatenstich und wie die neuen Nachbarschaftsgärtner ein wenig ratlos vor ihren Aufgaben stehen. Braucht man eine Bürgerwehr gegen Jugendliche, die nächtens im Garten Unfug treiben könnten? Tatsächlich wird später einmal ein Kürbis geklaut, aber das so nebensächlich, dass es im Film gar nicht vorkommt. Stattdessen ist zu sehen, wie in kurzer Zeit nicht nur die ersten Früchte reifen, sondern auch die Beziehungen zwischen den Nachbarn. Der Platz wird zur Begegnungsstätte, bei sommerlichem Wetter hält eine Aktivistin – es sind fast nur Frauen, die sich um den Garten kümmern – dort Lach­yoga-Kurse ab, und wenn sich ein Anwohner über den Kompost beklagt, der stinkt und Fliegen anlockt, wird eine Lösung im Kollektiv gefunden.

Ines Reinisch interessiert der Garten als ökologisches wie auch als soziales Phänomen, und dies wird im zweiten, ganz anderen Teil des Films deutlich: Die neue Gemeinschaft im Grünen war solch ein Erfolg, dass die Anwohner den Garten unbedingt auch in den nächsten Jahren weiter betreiben wollten. Dies war von den Behörden und der Kunstausstellung so nicht vorgesehen – es begann ein kleiner Kampf. Auf einer Beiratssitzung etwa berichten Anwohner von lästigem Lärm, eine ältere Frau beklagt sich über „Wildheit“ und „Unordnung“. Und als der Sieg über die Bürokratie fast errungen ist, schlägt der Denkmalschutz zu: Er verlangt eine Sichtachse zu einem historischen Gebäude am anderen Ende des Platzes. Irgendwann konnte der Garten dann doch weiterbetrieben werden, er ist inzwischen mehrfach ausgezeichnet worden.

Ines Reinisch, geboren in Hamburg, studierte dort Kommunikationsdesign, aber auch ökologische Agrarwissenschaften an der Universität Kassel. Sie war selbst in der Planungsgruppe für das Projekt – und entschied sich sehr früh dafür, es mit der Kamera zu begleiten. Die Dreharbeiten dauerten knapp zwei Jahre, bis November 2013, da hatte sie 200 Stunden Rohmaterial aufgenommen. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich daraus ein 78-Minuten-Film machen ließ. Sie hat ihre Dokumentation als eine klug ausbalancierte Mischung aus Stimmungsbild und Lehrfilm montiert.

Nach kurzer Zeit reifen erste Früchte – und die Beziehungen zwischen den Gärtnern

Verführerisch wirken ihre Aufnahmen vom öffentlichen Garten nicht nur, weil die Kamera die Erbsenschoten, Feldblumen und Kartoffeln so feiert, sondern auch, weil Thomas Höhl eine derart passende Filmmusik eingespielt hat, für die er inzwischen den „NaturVision“-Filmmusikpreis bekam.

Dass Reinisch ihren Film als Teil der Bewegung sieht – sie schreibt selbst von einem „Schlüssel für städtekulturelle Vielfalt und mehr Lebensqualität in facettenreicher Form“ – wird auch durch die Form deutlich, in der sie ihn präsentiert: Sie reist damit durchs Land, organisiert auch den Vertrieb selbst und ruft in den einzelnen Städten nicht etwa zuerst die Kinobetreiber an, sondern die örtlichen Gruppen für urbanes Gärtnern. Diese können sich dann bei den Vorführungen vorstellen.

So wird sie am Dienstag nach der Vorführung im Bremer „City 46“ ein Filmgespräch mit der Gartengruppe „Ab geht die Lucie“ führen und tags darauf in der Lüneburger „Scala“ den dortigen „Kulturgarten“ unterstützen, bei dem gerade auch Flüchtlinge mitarbeiten. Weitere Termine sind am 22. Februar in Göttingen, 29. Februar in Braunschweig und 10. März in Kiel.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen