Die Wahrheit: Kirre am Abgrund

Die Angst geht um in Deutschland, die ganz große Angst. Es ist die Angst vor dem finalen Abstieg.

Mann geht die Treppe in einer Halle herunter. Man sieht von oben nur seine Rückseite. Unten stehen eingehüllte Statuen.

Am Ende der Stufen wartet definitiv das unverhüllte Grauen. Foto: rtr

Viele Beobachter des Zeitgeschehens fragen sich: Warum machen die Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit im Augenblick so einen unentspannten, windigen, behämmerten, ja geradezu durchgeknallten Eindruck? Warum will seriösen Umfragen zufolge fast jeder sechste Deutsche illegale Einwanderer „am liebsten eigenhändig erwürgen“, während immerhin jeder zweite jedenfalls nichts dagegen hätte, sie „von gedungenen Kräften klammheimlich aus dem Weg räumen zu lassen“?

Experten wie der Starnberger Therapeut Dr. Maik Schelling sind sich sicher, die Ursache gefunden zu haben. „In Deutschland grassiert derzeit verschärft die Abstiegsangst“, analysiert der mehrfach diplomierte Psychologe. „Seit Mitte letzten Jahres konnte man es gehäuft in den Treppenhäusern von Tiefgaragen beobachten, insbesondere aber an den U-Bahn-Stationen – plötzlich traute sich keiner mehr runter!“

Vor Schächten und Treppenabgängen stauten sich angstschlotternde Menschenknäuel, die tumultartigen Szenen machten bundesweit Schlagzeilen. In Köln und Nürnberg kam es sogar zu Verletzten, als einige der Eingekesselten ihr Wasser nicht mehr halten konnten und in der folgenden Überschwemmung eine Massenpanik ausbrach.

Chlamydienartige Abstiegsangst

Für den promovierten Psychologen liegt der Grund dafür auf der Hand: „Vor allem in den deutschen Mittelschichten breitet sich die Angst vor dem Abstieg aus wie sonst nur die Chlamydien“, erklärt Sportwagensammler Schelling. „Das macht die Leute völlig kirre, wenn sie die unteren Parkdecks nicht mehr benutzen können oder zu Fuß zur Arbeit müssen. Denken Sie nur an die Verspätungen und wie viel Furcht Deutsche davor haben, einen klitzekleinen Anschiss vom Chef zu riskieren – da werden sie natürlich aggressiv!“

Abgesehen von den Folgen, die die Abstiegsangst für unser Zusammenleben habe, stelle sie auch anderweitig eine Bedrohung dar, wie der Therapeut und begeisterte Segelflieger berichtet. Zum Beispiel für Deutschlands Außengrenzen: Die meisten Leuchtturmwärter gäben ihren Job auf oder verrichteten ihn übermüdet rund um die Uhr, um sich die enge Wendeltreppe zu ersparen.

Wolkenkuckucksheimartige Verdrängung

Auch der Forschungsstandort sei in Gefahr: Immer mehr Wissenschaftler beschäftigten sich nur noch mit höchst abstrakten Fragestellungen, bloß um sich nicht mehr aus ihrem Wolkenkuckucksheim heraus- und hinab zu den einfachen Leuten begeben zu müssen. „Denn die haben ja, wie gerade überall zu sehen, wirklich eine Vollmeise“, bringt es ein Dekan der Universität Hamburg auf den wissenschaftlichen Punkt.

Der Bammel vor dem Abgrund breitet sich nicht nur in den Leucht- und Elfenbeintürmen der Republik aus. Auch auf der Straße oder sogar darunter droht er bereits Existenzen zu vernichten. Hüseyin Akras, der in der B-Ebene des Frankfurter Hauptbahnhofs eine kleine Boutique mit Reisemitbringseln und Rauschgift betreibt, klagt seit Wochen über schwindende Umsätze und ausbleibende Kundschaft: „Eigentlich hätte ich den Laden gestern schon dichtmachen müssen. Obwohl ich nur noch das beste Zeug anbiete, ich rede von dem wirklich heißen Stoff, Alter, Reisemitbringsel vom Feinsten! Und mein Rauschgift ist auch ganz in Ordnung.“

Dagegen warnt der Hamburger Soziologie-Dekan, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, vor allem vor den sozialen Verwerfungen der Massenhysterie: „Wo die Abstiegsangst pathologisch wird, mögen die Leute an Aufstieg gar nicht mehr denken“, sagt der auf Lebenszeit verbeamtete, vielfach dekorierte Max-Planck-Preis-Träger des Jahres 2001. „Viele wagen sich ja schon nicht mehr aufs verrostete Trittleiterchen, aus Angst vor den zwei oder drei Stufen, die sie hinterher wieder hinabklimmen müssten. Armes Deutschland!“

„Atomare Apokalypse in unseren Seelen“

Ins selbe Horn stößt der Psychologe und Großgrundbesitzer Schelling. „Sobald es ein paar Meter abwärts geht, sehen Deutsche gleich schwarz“, erläutert der Millionenerbe. „Aber in unserer Gesellschaft ist die soziale Mobilität tatsächlich äußerst beschränkt, zumindest in der Aufwärtsrichtung. Ganz unten ist man ja im Nu – danke, SPD!“

Über die weitere Entwicklung sind sich die beiden Forscher uneins. Der Psychologe sagt eine Katastrophe vorher, die er „die atomare Apokalypse in unseren Seelen“ nennen möchte (Titelschutz bereits beantragt): „Man darf nicht vergessen, dass etwa zwei Drittel der Deutschen sich ohne Rechtsanwalt nicht vernünftig miteinander unterhalten können und fast vier Fünftel jedes moralische Prinzip über Bord werfen, sobald irgendetwas Unordnung in ihren gründlich desinfizierten und sorgsam gewienerten Seelenhaushalt bringt.“

Der Soziologe hält hingegen ein Szenario für wahrscheinlicher, in dem nach dem verdienten Untergang Deutschlands eine friedfertigere Rasse aus dem Süden einwandert und die Mitte des Kontinents besiedelt. Seine eigene Abstiegsangst behält er übrigens im Griff, indem er immer den Fahrstuhl nimmt: „Da geht es wenigstens schnell, bis man unten aufschlägt.“

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