: Molotow:Rentefüralle
Griechenland Mit einem Generalstreik protestiert die Bevölkerung gegen die Kürzung der Renten und die Erhöhung der Steuern. Verschuldung des Landes erreicht Rekord
Aus Athen Jannis Papadimitrou
Es war eine der größten Massenkundgebungen der letzten Monate in Hellas: Nach Polizeiangaben versammelten sich zeitweise über 70.000 Menschen am Athener Verfassungsplatz vor dem griechischen Parlament, um gegen neue Spar- und Reformmaßnahmen zu demonstrieren. Zum Generalstreik hatten die Beamtengewerkschaft ADEDY und der größte Gewerkschaftsverbund der Privatangestellten GSEE aufgerufen.
Aus Angst vor Ausschreitungen zeigte die Polizei starke Präsenz, was Ausschreitungen doch nicht verhinderte: Am Donnerstagnachmittag kam es zu Zusammenstößen vor dem Parlament, als ungefähr 60 Jugendliche, vermutlich Anarchisten des Schwarzen Blocks, mit Molotowcocktails auf Polizisten und Bankfilialen losgingen. Sie warfen Brandsätze auf die Polizisten, diese antworteten mit Blendgranaten und Tränengas. Hunderte andere Demonstranten flüchteten in die Nebenstraßen. Bis dahin war deren Protest friedlich verlaufen.
In Griechenland ist kein Ende des sechsjährigen Finanzdramas in Sicht. Die Wirtschaft steckt trotz der Rettungsprogramme weiter tief in der Krise. Das Land weist innerhalb der EU eine Rekordarbeitslosigkeit von 24,5 Prozent auf. Fast jeder zweite junge Mensch hat keinen Job.
Das Defizit als Anteil des Bruttoinlandproduktes (BIP) soll dieses Jahr mit etwa 333 Milliarden Euro den Rekordwert von gut 192,4 Prozent erreichen (2015 war es 181,8 Prozent und 2014 177,1 Prozent des BIP).
Die Renten- und Pensionskassen müssen jährlich mit Milliarden Euro subventioniert werden, damit sie Renten auszahlen können. Weil die Schattenwirtschaft 22 Prozent beträgt, können die Rentenkassen ohne Rentenkürzungen nicht gerettet werden.
Viele Unternehmer bieten jungen Leuten an, für nur fünf Euro am Tag plus Trinkgeld zu arbeiten. Zehntausende junge gut gebildete Griechen sind bereits ins Ausland ausgewandert. (dpa)
Anschließend kam es in der gesamten Innenstadt zu Ausschreitungen. Am viel besuchten Omonia-Platz wurde ein griechischer Journalist verletzt. Die Streikenden protestieren lautstark gegen die Sparpläne von Regierungschef Alexis Tsipras, die unter anderem eine drastische Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge vorsehen. „Ohne Reform sind unsere Rentenkassen in fünf Jahren nicht mehr in der Lage, Renten zu zahlen“, mahnte Tsipras bereits Anfang Januar in einem Pressegespräch.
Diese Warnung leuchtet ein, doch die aufgebrachten Menschen erinnern sich lieber an sein Wahlversprechen, das verhasste „Memorandum der Sparpolitik zu zerreißen“ und den Rentnern „ihre Würde zurückzugeben“. Und noch etwas macht Freiberufler wütend: Um Rentenkürzungen zu vermeiden, plant die Regierung eine deutliche Anhebung der Sozialbeiträge, insbesondere für Selbständige, die in den letzten Krisenjahren ohnehin schmerzhafte Einkommenseinschnitte und höhere Steuerbelastungen hinnehmen mussten.
Sprecher der Arzt- und Anwaltsverbände rechnen vor, dass gut verdienende Freiberufler über 80 Prozent ihres Bruttoeinkommens an die Staats- oder Rentenkasse abführen müssten, sollten alle Sparmaßnahmen wie geplant verabschiedet und umgesetzt werden. Eine Zeitbombe für die Regierung Tsipras: Traditionell hat Griechenland die größte Selbständigenquote in der EU, da viele Menschen notgedrungen freiberufliche Tätigkeiten ausüben, um der Massenarbeitslosigkeit zu entkommen.
Auch Landwirte, denen ebenfalls drastische Steuer- und Beitragserhöhungen drohen, gehen seit Wochen auf die Straßen und blockieren zudem wichtige Verkehrsverbindungen, etwa in der Nähe der zweitgrößten griechischen Stadt Thessaloniki, in der Provinzhauptstadt Larissa, sowie an der griechisch-bulgarischen Grenze. Am Donnerstag hielten sich die Bauern zurück, doch sind weitere Aktionen geplant. So soll die Zufahrt zum Athener Flughafen gesperrt werden.
„Volkes Stimme“ titelte am Mittwoch die linksliberale Zeitung der Redakteure, die Tsipras eher wohlwollend, aber nicht unkritisch gegenüber steht. Derzeit muss der Linkspremier an mehreren Fronten kämpfen, um sowohl die Streikenden als auch die internationalen Geldgeber und nicht zuletzt seine eigene Partei zu beschwichtigen.
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