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HANDBALL Nach dem verblüffend souveränen EM-Sieg gegen Spaniengeht der Blick nach Rio de Janeiro:Was ist für dieses Team bei den Olympischen Sommerspielen möglich?
aus KrakOW Felix Meininghaus
Eine halbe Stunde nach dem großen Triumph stürmte Christian Dissinger in die Mixed Zone der mächtigen Tauron Arena von Krakow und grölte den wartenden Journalisten die Parole des Abends entgegen: „Gebt uns Bier, wir haben Durst!“ Mit dieser Forderung war der verletzte Rückraumspieler nicht allein, auch seine Mitspieler brannten darauf, den wunderbaren Augenblick zu begießen. Rückraumschütze Steffen Fäth gab auf die Frage, ob es denn am Abend die für deutsche Handballer im Erfolgsfall obligatorischen Burger gäbe, zu Protokoll: „Völlig egal, wenn ich genügend Bier bekomme, brauche ich sonst nichts mehr.“ Und Torhüter Carsten Lichtlein wusste: „Ich gehe heute Nacht auf jeden Fall nicht ins Bett.“
Deutschlands Handballer machten nach dem Gewinn der Europameisterschaft genau da weiter, wo sie auf dem Spielfeld aufgehört hatten: Sie ließen es krachen. Dass diese Mannschaft dem Rest des Kontinents in dieser Konstellation die Rücklichter zeigte, ist nicht weniger als eine Sensation. Viele Nationen hatten die Experten vor Turnierbeginn auf dem Zettel, die Deutschen gehörten nicht dazu. Natürlich die Franzosen, das Team um den Jahrhundert-Handballer Karabatic, das in der vergangenen Dekade alles abgeräumt hatte. Oder die physisch und nervlich so starken Dänen, die unglaublich routinierten Spanier, Gastgeber Polen mit seinem gewaltigen Rückraum und die spielstarken Kroaten. Sie alle mussten sich geschlagen geben, weil die Rasselbande aus Deutschland etwas dagegen hatte.
So viel Leidenschaft, so viel ungebremster Wille, so viel Glaube in die eigene Stärke, das erinnerte frappierend an die jungen Wilden aus Dortmund, die 2011 unter Jürgen Klopp zur Deutschen Meisterschaft stürmten und gar nicht wussten, was sie da bewegt hatten. Nun ist es also ein Handball-Märchen, das Deutschland in seinen Bann zieht. 12,98 Millionen Zuschauer in der Spitze sahen die Übertragung des famosen Finalauftritts gegen Spanien in der ARD, was einem Marktanteil von 42 Prozent entspricht. „Wir haben in Deutschland offenbar eine Euphorie entfacht“, sagte der famose Torhüter Andreas Wolff. Eine ähnliche Begeisterung hat es für Handball zuletzt 2007 gegeben, als das Team des damaligen Bundestrainers Heiner Brand bei der Weltmeisterschaft vor heimischer Kulisse das Wintermärchen verwirklichte.
Brand, der Mann mit dem mächtigen Schnauzbart, stand für Bodenständigkeit. Nun heißt der Bundestrainer Dagur Sigurdsson, der Isländer, der in Auszeiten mit einer verbeulten Taktiktafel aus dem letzten Jahrtausend hantiert, hat viele Innovationen in seine Sportart eingebracht. Der 42-Jährige lässt mit einer taktischen Vielfalt spielen, die alle beeindruckt, die sich näher mit Handball beschäftigen. Was auch immer an Herausforderungen an seine Mannschaft gestellt wurden, Sirgurdsson kannte eine Antwort. Auch der Umstand, dass zahlreiche Stammspieler verletzt passen mussten, beeindruckte Sigurdsson nicht. Immer wieder betonte er, es seien so viele begabte Spieler im Land, dass sämtliche Lücken zu füllen seien. Das Selbstverständnis dieser Mannschaft formulierte Lichtlein: „Es fallen keine Spieler aus, es kommen einfach neue dazu.“
Was Sigurdsson in den zurückliegenden eineinhalb Jahren geleistet hat, erklärt Teammanager Oliver Roggisch so: „Dagur hat immer die richtigen Ideen, und die hat er 21-jährigen Jungs vermittelt, die nicht einmal Bartwuchs haben.“ Der 2,10 Meter lange Abwehrchef Finn Lemke spricht von einem „Plan, den er uns gibt, und der ist immer schlüssig. Das macht dich unheimlich selbstbewusst. Wenn der erste Block sitzt, fühlst du dich auf einmal unheimlich stark.“
Ihr Meisterstück machten die Himmelsstürmer beim unglaublichen EM-Finale, als sie den Spaniern beim rauschhaften 24:17 (10:6) den letzten Nerv raubten. Eine solch fulminante Abwehrleistung hat die Handballwelt schon lange nicht mehr gesehen. Dazu kam mit Andreas Wolff ein überragender Rückhalt. Der 24-Jährige von der HSG Wetzlar machte das Spiel seines Lebens und hielt die Hälfte aller Würfe. Ein überragender Wert.
Wolff ist einer von vielen, die sich in Polen ins Rampenlicht spielten. Deutschland schickte bei der Europameisterschaft das jüngste Team ins Rennen und holte am Ende dennoch den Titel. Ein Umstand, der die Fantasie beflügelt. Diese neue Generation könnte im Welthandball durchaus eine Ära gestalten, schließlich haben Spieler wie Abwehrchef Finn Lemke, Fabian Wiede, Hendrik Pekeler, Erik Schmidt, Rune Dahmke, Julius Kühn oder Jannik Kohlbacher ihre besten Jahre noch vor sich.
Rosige Aussichten
Das weiß auch Sigurdsson: „Wir können noch lange zusammenbleiben“, betont der Baumeister des neuen deutschen Höhenflugs. Mehr noch: „Wir haben in Deutschland 30 bis 40 Spieler, die dieses Niveau erreichen können.“ Solche Aussagen beflügeln die Träume aller Handballfans im Land. Der EM-Triumph hat nämlich den willkommenen Nebeneffekt, dass die Nationalmannschaft das Ticket für die Olympischen Spiele in Rio buchte und sich damit die kräftezehrende Qualifikationsprozedur erspart. Seit die DDR 1980 in Moskau mit Gold dekoriert wurde, haben deutsche Handballer beim wichtigsten Turnier nicht mehr triumphiert. Das könnte sich im Sommer ändern, auch wenn Bob Hanning warnt: „Vorsicht Leute, es wird auch Rückschläge geben.“ Der ebenso streitbare wie innovative DHB-Vizepräsident Sport denkt längerfristig. Er hat geplant, dass Deutschland bei der Heim-Weltmeisterschaft 2019 ganz oben ankommt, um im Jahr darauf in Tokio Olympiagold zu holen.
Dass Dagur Sigurdsson und seine jungen Wilden, die sich „Bad Boys“ nennen, den Chefstrategen in Polen mit Vollgas überholten, nimmt der Berliner lächelnd zur Kenntnis: „Damit kann ich sehr gut leben.“
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