HörbuchSchicksale unter dem Hakenkreuz. Einmal aus nächster Nähe erzählt, einmal sorgfältig und engagiert ausgeleuchtet
: Ein Brief aus Auschwitz

Marceline Loridan-Ivens ist 15, als sie im Februar 1944 zusammen mit ihrem Vater in Südfrankreich verhaftet und deportiert wird. Ihre Eltern waren 1919 aus Polen nach Frankreich emigriert, liebten dieses Land, fühlten sich dort sicher. Marceline kommt nach Birkenau, der Vater ins wenige Kilometer entfernte Auschwitz. Es gelingt ihm, Marceline einen Brief zukommen zu lassen, den sie nach einmaligem Lesen sofort vernichtet und an dessen Inhalt sie sich nicht mehr erinnern kann. „Es war wichtig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.“

Siebzig Jahre später entscheidet sie sich, dem Vater einen Antwortbrief zu schreiben. „Und du bist nicht zurückgekommen“ ist die literarisch hochkarätige Verarbeitung ihrer Erinnerungen, die durch die persönliche Anrede des Vaters eine besondere Intimität erzeugt: „Ich hatte keine Zeit, mir einen Vorrat von dir anzulegen.“

Iris Berben, die sich abseits des Starrummels stark gegen Antisemitismus und Rassismus engagiert, liest die schonungslose und gleichsam sachliche Schilderung des erlebten Grauens ebenso schonungslos und sachlich und trotzdem einfühlsam.

Dass Loridan-Ivens es nicht bei Erlebnissen im KZ belässt, sondern vor allem von deren Auswirkungen auf ihr Leben danach und das ihrer Familie erzählt und dabei ein Schlaglicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit wirft, macht „Und du bist nicht zurückgekommen“ zu einem seltenen Glücksfall für die Erinnerungskultur. Sie schildert nicht nur den Zerfall der Familie – zwei Geschwister bringen sich später um („Sie hatten das Lager in sich, ohne dort gewesen zu sein“), das Verhältnis zur Mutter bleibt unterkühlt – was sie zu dem erschreckenden Schluss kommen lässt, dass es besser gewesen wäre, der Vater wäre statt ihrer zurückgekommen. Loridan-Ivens ist seit den sechziger Jahren eine gefeierte Dokumentarfilmerin und lebt in Paris.

Loridan-Ivens erzählt aus nächster Nähe. Den Hintergrund dazu kann man in „Eine Erdbeere für Hitler“ erfahren, einem Hörbuch, das Jugendlichen den Weg Deutschlands in den Faschismus und dessen Auswirkungen auf das tägliche Leben während der NS-Diktatur erläutert. Zu Beginn steht die luzide Einführung „Der ‚Führerstaat‘ – Von der Entstehung einer Diktatur“ des im letzten Jahr verstorbenen Historikers Hans Mommsen, in der er den Zusammenbruch der Weimarer Republik, die Auflösung nicht gefestigter demokratischer Strukturen und den Aufstieg Hitlers vom mittellosen Niemand zum Reichskanzler nachzeichnet.

In weiteren fünf Kapiteln entsteht ein facettenreiches Mosaik der NS-Diktatur. Es wird hergeleitet, warum die Deutschen so empfänglich waren für die Verheißungen des Nationalsozialismus, insbesondere auf welche Weise Kinder und Jugendliche gefügig gemacht wurden. Anhand des Mikrokosmos eines Mietshauses wird verdeutlicht, wie die Saat von Hass und Anwendung von Gewalt Angst und Schrecken verbreitete und das labile gesellschaftliche Gefüge umgestoßen hat. Die Autorin Mirjam Pressler beschreibt in „Himmel und Hölle“ das Schicksal jüdischer Mädchen, die über Dänemark nach Palästina auswandern wollten, aber nach Theresienstadt deportiert wurden. Ein Kapitel beschäftigt sich mit dem Widerstand und „1945 – Das Jahr der Befreiung“ reicht bis zu den Nürnberger Prozessen. Begriffe wie „Versailler Verträge“ oder „Gestapo“ werden zwischenrufartig erklärt.

Die trocken inszenierte Lesung ist kaum von Geräuschen unterlegt, es gibt nur wenige O-Töne, und eine vermehrt dialogische Inszenierung mit verteilten Sprecherrollen hätte dem Hörbuch gut getan. Am Ende ruft Herausgeberin Carola Stern auf: „Schafft keine neuen Feindbilder.“ Normalerweise würde man diese Didaktikkeule für unnötig halten. Doch angesichts aktueller (gesellschafts-)politischer Entwicklungen in Deutschland und Europa ergibt sie wieder Sinn. „Eine Erdbeere für Hitler“ ist neben der erhellenden historischen Information eine ausgezeichnete Gesprächsgrundlage, die Jugendliche für die perfiden Mechanismen sensibilisiert, mit denen Fremdenfeindlichkeit und Angst vor dem Anderen geschürt werden. Sylvia Prahl

Marceline Loridan-Ivens:„Und du bist nicht zurückgekommen“. DAV, ungekürzte Lesung, 2 CDs mit Booklet, ca. 130 Minuten

Carola Stern, Ingke Brodersen (Hg.):„Eine Erdbeere für Hitler – Deutschland unterm ­Hakenkreuz“. Igel Records, 8 CDs, 8,5 Stunden