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Leere Handlung Coming of Age ja, Entwicklung eher nein. Die Autorin Cornelia Travnicek und ihr Adoleszensroman „Junge Hunde“Schon so ungeheuer erwachsen

Erzählen, was zu erzählen ist: Cornelia Travnicek Foto: Heike Bogenberger

von Moritz Müller-Schwefe

Was der Börsenverein des deutschen Buchhandels leider nicht misst: die Zahl der LeserInnen eines bestimmten Romantypus. Schade. Denn die Anzahl der Coming-of-Age-Roman-LeserInnen muss geradezu spektakulär groß sein. Seit Jahren hat dieser Romantypus Konjunktur. Kaum ein großer Verlag, der heute keinen Entwicklungsroman im Programm hat. Kaum DebütantInnen und JungautorInnen, die nicht von den Teens und Twens erzählen. Logisch, der Stoff liegt nahe und die eigene Jugend noch nicht so lang zurück. Außerdem: Coming of Age geht eben immer. Erst recht seit „Tschick“. Oder?

Mit „Junge Hunde“ hat auch Cornelia Travnicek einen neuen Entwicklungsroman veröffentlicht. Schon der 2012 erschienene Roman „Chucks“ der 1987 geborenen, in Österreich lebenden Autorin konnte eine Coming-of-Age-Geschichte genannt werden. In dieser flieht die junge Wienerin Mae vor ihren Eltern auf die Straße, unter die Punks und in die Arme ihrer großen Liebe, des aidskranken Paul.

Überall lauern die Erinnerung und die Frage nach der eigenen Herkunft: Über ihr Bett hängt sich Johanna ein Porträt des falschen Vaters. Keine Chance auf einen Ausbruch

Jetzt, drei Jahre später, legt Travnicek mit „Junge Hunde“ also eine weitere Adoleszenz-Geschichte vor. Sie handelt von Johanna und Ernst, beide auf Sinn- und Wahrheitssuche. Sie handelt von der jungen Studentin, die nicht recht weiß, wohin: wohin mit dem demenzkranken Vater, wohin mit dem Haus der Eltern, aus dem die Mutter nach Südamerika geflohen ist, wohin mit sich selbst, dem Leben; und von dem in China geborenen Adoptivsohn der Nachbarn, dem nach seinem Gesichtsausdruck benannten Ernst – der sich aufmacht, in der chinesischen Provinz seine leibliche Mutter zu suchen. Doch Johanna und Ernst verbinden nicht nur die schwierigen Familienverhältnisse. Aus Nachbarn sind über die Jahre Freunde geworden und vielleicht sogar mehr.

Umso härter trifft es Johanna, dass sie nun monatelang ohne den Seelenverwandten auskommen muss. Sie fühlt sich von allen verlassen, beginnt Fragen zu stellen, nachzudenken, sich zu erinnern: „Noch“, heißt es an einer Stelle des Romans treffend, „sitzt man an der Erinnerung wie an einem Strand, und schon nimmt einen die Ebbe mit. Verliert man sich in Unterwasserströmungen. Hört die Sirenen singen.“ Irgendwann hört auch Johanna die Sirenen singen. Gegenwart und Abschlussarbeit rücken in weite Ferne. Sie driftet ab. Beim Freiräumen des zu verkaufenden Elternhauses fällt ihr Blick ständig auf Notizbücher, Postkarten und Familienfotos: „Die Bilder stellt Johanna in das Regal. Jedes Mitglied der Familie einzeln im Rahmen. Sie ordnet sie verschieden an. Johanna legt die lächelnden Bildergesichter eins nach dem anderen um. Stellt sie wieder auf. Wendet sie einander zu. Setzt sie in Beziehung.“ Bei ihren Recherchen findet sie schließlich heraus, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist, und beginnt, den eigentlichen zu suchen.

Es ist ein kompliziertes, ein engmaschiges Netz aus Erinnerung, Familie und Vergangenheit, das Travnicek um ihre Protagonisten legt. Nicht nur sie verfangen sich darin, oft kommt auch der Leser ins Stolpern. Überall lauern die lähmende Erinnerung und die Frage nach der eigenen Herkunft: Über ihr Bett hängt sich Johanna ein Porträt des falschen Vaters. Keine Chance auf einen Ausbruch. Selbst im Fernen Osten nicht. „Diese Fahrt“, denkt der auch in seinem Geburtsland und mit seiner leiblichen Mutter fremdelnde Ernst irgendwann, in einem chinesischen Zug sitzend, „ist eine leere Handlung, ich glaube nicht mehr an Zweck und Ziel, ich tue, was zu tun ist, ich werde zu Hause dann erzählen, was zu erzählen ist.“

Auch „Junge Hunde“ fühlt sich phasenweise an wie eine leere Handlung. Es wird erzählt, was zu erzählen ist, was sich aus dem Personengeflecht ergibt. Die Figuren aber, wenn auch liebevoll gezeichnet, kommen nicht vom Fleck. Sind trotz ihres Alters bereits ungeheuer erwachsen, wirken stellenweise apathisch. Es fällt schwer, mit ihnen zu fühlen, sich für sie zu begeistern. „Was interessiert es mich eigentlich“, fragt sich Johanna zwischenzeitlich in Bezug auf ihren eigentlichen und uneigentlichen Vater, in Bezug auf die Frage, der sie so lange hinterhergejagt ist, „was ändert es an mir?“ Ein Verdacht macht sich breit. In ihr – und im Leser: Was, fragt der sich auf der letzten Seite, ändert dieses Buch an mir?

Zuletzt bleibt alles, wie es ist. Drinnen wie draußen. Ernst findet seine leibliche Mutter und hat ihr nichts zu sagen. Johanna macht den leiblichen Vater ausfindig – und holt den falschen heim, in das alte Elternhaus, das sie sich dank eines Erbes leisten und in dem sich nun eine Freundin um den Vergesslichen kümmern kann. Auch Ernst wird dazustoßen, Ernst, „der ihr ein Leben lang ein Freund war“.

Cornelia Travnicek:„Junge Hunde“. DVA, München 2015, 240 Seiten, 14,99 Euro

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