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Ausnahmezustand

Lüge Bislang ist am Lageso kein Flüchtling gestorben – und das ist gut. Dass wir einen solchen Fall dennoch für plausibel halten, ist die eigentliche Katastrophe

von Malene Gürgen

Das Wichtigste zuerst, auch wenn es selbstverständlich sein sollte: Es ist eine gute Nachricht, dass die Geschichte vom toten Flüchtling in Berlin erfunden war. Ganz einfach deswegen, weil es bedeutet, dass kein 24 Jahre altes Leben zugrunde gegangen ist an deutscher Flüchtlingsverwaltung. Einen Moment innehalten und sich diese Tatsache vergegenwärtigen hilft, in der überdrehten Debatte darum, was es nun heißt, wenn sich ein Flüchtlingshelfer in Berlin einen toten Flüchtling ausdenkt und die erfundene Nachricht einen Tag lang hohe Wellen schlägt.

Heißt es, dass die Flüchtlingshilfe nun ein Problem hat? Ja. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut, gerade weil gefakte Meldungen über angebliche Vergehen von Flüchtlingen ein beliebtes Mittel der Meinungsmacher von Pegida & Co sind. Deswegen war es ein Fehler der Initiative „Moabit hilft“, die Nachricht ungeprüft zu verbreiten – welchen Wirbel diese auslösen würde, konnte die medienaffine Vorzeigeinitiative sehr wohl einschätzen.

Gleichzeitig gilt aber auch: Dass Menschen, die seit Monaten ehrenamtlich versuchen, die Fehler von anderen auszubügeln, irgendwann selbst Fehler machen, ist verzeihlich; dass es schwer fällt, angesichts der großen Belastung einen kühlen Kopf zu bewahren, verständlich. Dazu kommt noch, dass es nur einen Klick braucht, um einen Beitrag auf Facebook zu teilen – müsste man erst eine Pressemitteilung schreiben, wäre der Gedanke, die Informationen noch einmal zu überprüfen, vielleicht naheliegender. Pauschale Medienschelte ist allerdings fehl am Platz: Die allermeisten Journalisten verbreiteten die Nachricht nicht als Tatsache, sondern unter Berufung auf die Angaben der Initiative. Die einzige Alternative dazu wäre gewesen, die Geschichte ganz zu ignorieren, bis eine andere Quelle sie bestätigt hat – ein solches Vorgehen würde aber verkennen, dass eine Nachricht nicht nur dann eine Nachricht ist, wenn sie in der Zeitung steht.

Über die Motive des Helfers, der offenbar in einem privaten Chat eine Bekannte anlog, kann man nur spekulieren. Gut möglich, dass Überforderung eine Rolle gespielt hat. Denn die Situation am Lageso, das berichten alle, die dort versuchen zu helfen, ist nach wie vor eine Katastrophe, die Menschen an ihre Grenzen bringt. Ja, es gibt einige kleine Verbesserungen. Gleichzeitig wächst die Frustration: Eine grundlegende Änderung, eine wirkliche Beendigung des Ausnahmezustands, der am Lageso Normalität geworden ist, tritt seit Monaten nicht ein.

„Dieses System ist so tödlich, wie wir es immer gesagt haben“, lautete der Subtext dieser Nachricht

Dabei gab es Anlässe genug: Ein kleiner Junge wird aus dem Chaos entführt, missbraucht und später ermordet, Frauen erleiden Fehlgeburten auf dem Gelände. Der Amtsleiter wird entlassen, der Bürgermeister erklärt die Situation zur Chefsache. Jedes Mal wieder die Hoffnung: Jetzt wird alles anders werden, dieses Mal wirklich. Und jedes Mal wieder die Enttäuschung: Ein neues Armbändchensystem hier, ein paar dünne Zelte dort. An der Grundsituation, dass Hunderte Tag für Tag bei allen Temperaturen stundenlang Schlange stehen müssen, um oft genug am Ende unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen, ändert sich nichts.

Das muss man wissen, um zu verstehen, was da am Mittwoch passiert ist. Denn zu den Gründen, warum die Nachricht so schnell verbreitet wurde, gehört auch das: Das Gefühl, dass sich am Lageso erst etwas ändert, wenn es einen Toten gibt. Das bedeutet nicht, dass irgendjemand sich einen Todesfall wünschen würde, in diese Richtungen gehende Vorwürfe an die Ehrenamtlichen sind widerlich und perfide. Aber: „Seht ihr, dieses System ist so tödlich, wie wir es immer gesagt haben“, lautete der Subtext dieser Nachricht – und nur deswegen, weil genügend Leute das für möglich hielten, konnte sie so hohe Wellen schlagen.

Deshalb: In erster Linie bedeutet die Geschichte der Falschmeldung, dass Berlin ein Problem hat. Es ist gut, dass es keinen Toten gab – dass die Situation am Lageso es plausibel erschienen ließ, dass es einen solchen Toten geben könnte, ist Katastrophe genug.

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