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Ein fragiles Rückgrat

Serie Arbeit (5) Im 19. Jahrhundert war Ehrenamt Dienst am Staat. Heute wollen Menschen, die sich engagieren, die Gesellschaft mitgestalten. Der Senat wäre deshalb gut beraten, die vielen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer nicht länger auszunutzen

von Nina Apin

Die Hausfrau, die mit Stullen am Bahnsteig neu ankommende Flüchtlinge erwartet. Der Student, der nach der Uni im Lageso Kleider sortiert. Der Arzt, der auf eigene Rechnung Kinder röntgt: Die neue deutsche „Willkommenskultur“ kam im Jahr der Flüchtlingskrise scheinbar aus dem Nichts. Vor allem die Deutschen selbst schienen erstaunt darüber. Helfen, sich kümmern – und das freiwillig, unbezahlt und neben der Lohnarbeit? Wo kommen in einem Land, das als supereffizient, aber ökonomiefixiert gilt, plötzlich all die Engagierten her?

Da waren sie eigentlich immer, sie fielen nur weniger auf. Laut dem Freiwilligensurvey der Bundesregierung von 2009 engagieren sich 36 Prozent der Deutschen über 14 Jahre ehrenamtlich. Das ist ein Drittel der Bevölkerung. Berlin lag mit 29 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt, aber ersten Schätzungen zufolge sind die Zahlen derer, die sich ohne Gewinnabsicht für andere einsetzen, 2015 kräftig angestiegen.

Helfen, wo man kann

Das lag sicher an den rund 80.000 Flüchtlingen, die im Jahr 2015 nach Berlin kamen. Genauer: Es lag am spektakulären Versagen der zuständigen Behörden und politisch Verantwortlichen. Weil die es nicht schafften, die Registrierung und Unterbringung der neu Ankommenden vernünftig zu regeln, brachen Tumulte in den chaotischen Warteschlangen aus, schliefen Familien mit Kindern auf der Straße, blieben Kranke wochenlang unversorgt. Zustände wie in einem Dritte-Welt-Land. Geschockt von den Verhältnissen vor ihrer Tür ­halfen viele BürgerInnen zunächst spontan aus, wo sie konnten.

Die Helfenden gliederten sich nicht in bestehende Wohlfahrtsortsorganisationen wie der Caritas oder dem Roten Kreuz ein – obwohl es dort natürlich auch viele Ehrenamtliche gab und gibt. Die von der Flüchtlingskrise bewegten HelferInnen organisierten sich stattdessen lose und unbürokratisch in lokalen Bündnissen wie „Moabit hilft“ oder „Pankow hilft“, in Nachbarschaftsinitiativen und digitalen Schlafplatz-Vermittlungsbörsen. Die Entstehung von kleinen, dezentralen Graswurzelbewegungen entspricht einem langjährigen Trend im Ehrenamtssektor: weg von den großen kirchlichen und humanitären Institutionen, hin zu einer selbstbestimmteren Art der Organisation leisteten Freiwillige humanitäre Arbeit. Losgelöst von den unbeweglichen Apparaten der Wohlfahrtsorganisationen und Kirchen können die neuen Ehrenamtlichen spontaner reagieren. Das kann aber auch heißen: Sie sind schneller weg, wenn ihnen etwas nicht passt.

Deshalb kann man von Glück sagen, dass die Engagierten vor dem Lageso und in der neuen Massenunterkunft in Tempelhof überhaupt noch da sind. Die Freiwilligendemo vom Oktober unter dem Motto „Es reicht!“ zeigte bereits, dass sich die Helfenden zunehmend als billige Ausputzer missbraucht fühlen. Kein Wunder: Das Heer der Helfenden übernimmt mittlerweile routinemäßig Aufgaben, die staatliche wären: Unterbringung und Verpflegung Schutzsuchender, Katastrophenschutz, ärztliche und anwaltliche Leistungen.

Und der Staat nimmt diese Hilfe inzwischen nicht nur dankend an. Mehr noch: Er verlässt sich darauf. Ende September bedankte sich Bürgermeister Müller mit warmen Worten bei den Flüchtlingshelfern – und versteckte sich gleichzeitig hinter ihnen. Der Senat tue alles für die Aufnahme und Versorgung der Neuankömmlinge, schaffe diese Aufgabe aber nicht alleine. „Nur gemeinsam können wir es schaffen“, flehte Müller und lud die Ehrenamtlichen zu einem Dankesempfang ins Rathaus ein.

Die Helfer aber blieben fern. Sie mussten arbeiten: Babynahrung austeilen, Wartende versorgen, Schlafplätze organisieren. Außerdem zeigten sie durch ihr Nichterscheinen ihr Nichteinverstandensein mit der Flüchtlingspolitik des Senats.

Serie "Arbeit, Arbeit, Arbeit"

Dass wir in einer „Arbeitsgesellschaft“ leben, in der sich viele Mitglieder mit Erwerbsarbeit identifizieren und in ihr Lebenssinn finden, ist ein alter Hut. Aber stimmt das noch? Was bedeutet Arbeit in einer Gesellschaft, die immer weniger Menschen braucht, um immer mehr Waren zu produzieren? Was heißt Arbeit, wenn Familienarbeit immer wichtiger wird? Wird Arbeit mehr geschätzt, wenn sie dank Mindestlohn besser bezahlt wird – oder weniger, weil Ehrenarbeit und Freiwilligenarbeit inzwischen die neuen Sinnstifter sind? Und wenn nun die Arbeitslosenquote in Berlin mit rund 10 Prozent so niedrig ist wie selten: Was für Jobs sind es, die der „Job-Motor Berlin“ anzieht? Ist es wahr, dass wenigstens Handel und Handwerk über die vielen Flüchtlinge froh sind – weil sie händeringend Arbeitskräfte suchen?

2015 hat gezeigt, wie belastbar das Ehrenamtlichen-Netzwerk sein kann. Aber der Senat ist gut beraten, sich darauf nicht auszuruhen. Denn wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als im Zuge der preußischen Städtereformen das Ehrenamt als „Bürgerpflicht“ erfunden wurde. Damals mussten männliche Mitglieder des betuchten Bürgertums Ämter in der Stadtverwaltung, bei der Feuerwehr und anderen kommunalen Einrichtungen bekleiden. Ihre Frauen betätigten sich wiederum häufig im karitativ-sozialen Bereich: Sie halfen in der Armen-und Sozialfürsorge, agierten als selbstlose Helferinnen bedürftiger Mitmenschen.

Heute aber sehen die meisten Ehrenamtlichen ihr Engagement nicht mehr als Dienst am Staat. Sie sind politisch motivierte Menschen, die durch ihr Sicheinmischen bewusst ein Gegengewicht zu Wirtschaft und Politik setzen wollen. BürgerInnen, die aus einem zivilgesellschaftlichen Selbstbewusstsein heraus handeln.

Im zivilgesellschaftlichen Gemeinsinn unserer Tage steckt meist auch eine gehörige Portion Eigensinn. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Gestaltungsspielraum ist es, der Ehrenamtliche von Helfern unterscheidet.

Gut also, dass die FlüchtlingshelferInnen noch da sind, obwohl man sie – nicht nur in Berlin – instrumentalisiert als menschliches Feigenblatt einer menschenunfreundlichen Politik.

Es ist Müllers Glück, dass sich Bündnisse wie „Moabit hilft“ in einem ähnlichen Dilemma befinden wie die Helfer der Tafeln, einer der größten Freiwilligeninitiativen der letzten 20 Jahre. Der große Erfolg der Tafeln ist zugleich ihr Problem: Mehr als 1,5 Millionen Bedürftige werden von den Essensausgaben der Tafeln unterstützt. An den Ursachen der Armut ändert dieser Erfolg nichts. Im Gegenteil: Im Vertrauen auf die gute Arbeit der Tafeln unterbleibt eine politische Armutsbekämpfung. Um die Notwendigkeit einer neuen Sozialpolitik zu unterstreichen, müssten die mehr als 3.000 Tafel-Läden und Ausgabestellen im Bundesgebiet schließen. Doch das hieße auch, die Armen im Stich zu lassen.

Bürgerschaftliches Engagement ist wie ein unsichtbares Netz, das die Gesellschaft stützt. Das Jahr 2015 hat gerade hier in Berlin gezeigt, wie belastbar dieses Netz sein kann. Das ist beruhigend. Anderseits aber zeigt die Tatsache, dass auch nach Monaten die Flüchtlingsversorgung ohne die Ehrenamtlichen sofort zusammenbrechen würde: So kann es nicht weitergehen. Ehrenamtliches Engagement ist eine wertvolle gesellschaftliche Ressource, aber kein Ersatz für Politik.

Im Gemeinsinn unserer Tage steckt eine gehörige Portion Eigensinn

Asyl ist ein Menschenrecht

Es ist gut, wenn Bündnisse wie „Moabit hilft“ in Zukunft weiterhin Kinderbetreuung anbieten und Nachbarschaftsfeste organisieren. Um Grundbedürfnisse der Flüchtlinge wie Essen, Kleidung, Unterkunft und einen Zugang zu unserer Gesellschaft aber muss sich die Verwaltung unserer Stadt kümmern. Schließlich ist Asyl ein Menschenrecht. Dieses durchzusetzen darf nicht auf die Zivilgesellschaft abgewälzt werden.

Das unter Akzeptanz- und Nachwuchsproblemen leidende System der Parteienpolitik und die starke, aber mit wenig Macht und Ressourcen ausgestattete Zivilgesellschaft brauchen einander. Das heißt aber auch, dass die Protagonisten der „Willkommenskultur“ ernst genommen werden müssen. Bei den ausgebrannten und zunehmend verzweifelten HelferInnen vor Ort kam es sicher nicht gut an, als Mario Czaja von den ehrenamtlichen Ärzten sprach, die „auch“ am Lageso arbeiteten – wo es doch bislang keinen einzigen hauptamtlichen Arzt dort gibt!

Zivilgesellschaftliches Engagement ist ein zartes Pflänzchen. So gern sich viele BürgerInnen in ihrer Freizeit engagieren: Man darf sie nicht überstrapazieren. Fühlen sich die Freiwilligen ignoriert oder ausgenutzt, wenden sie sich ab von der politischen Sphäre. Und tun, was sie jederzeit frei sind zu tun: Sie stellen ihr Engagement ein. Und andere, Jüngere, beginnen gar nicht erst damit. Dann können wir einpacken.

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