: Mit Kalaschnikows gegen Bleistifte
7. Januar 2015 Was geschah am Tag des Anschlags auf „Charlie Hebdo“? Was in den Tagen danach? Und was ist die Vorgeschichte des mörderischen Attentats auf die Meinungsfreiheit? Eine Chronologie der Ereignisse
von Rudolf Balmer, Paris
Charlie Hebdo war nie eine Zeitung wie andere. Weder zu Beginn in den frechen Gründerjahren als satirische Verlängerung der antiautoritären Revolte des Pariser Mai 68 und erst recht nicht nach dem mörderischen Anschlag auf die Freiheit der Karikatur vor einem Jahr am 7. Januar 2015. Wer das Grundrecht der freien kritischen und spöttischen Meinungsäußerung bis an den Rand, und mitunter darüber hinaus, auf satirische Art verteidigen will, macht sich Feinde. Die Geschichte von Charlie Hebdo ist ein permanentes Ringen um die Existenz dieser Konzeption der gesellschaftskritischen Satire. Wer aber mit solcher an Sadomasochismus grenzenden Vorliebe den französischen Spießer mit seinen reaktionären Ideen und seiner sexuellen Verklemmtheit anprangert, muss sich über gehässige Reaktionen nicht wundern.
Die Vorgeschichte
Im konservativen Frankreich der sechziger Jahre mutete eine solche publizistische Haltung fast suizidär an: Nicht zufällig hieß die zunächst monatlich gedachte satirische Zeitung zuerst Hara-Kiri, die von sich selbst behauptete, sie sei „dumm und böse“. 1961 wurde sie erstmals verboten, bei einem zweiten Anlauf 1966 erneut. Doch dann fegte die Jugendbewegung des Mai 68 durch das Land, und das Zeichner- und Redaktionsteam um François Cavanna und Choron gründete „Charlie“ als Sprachrohr der sexuellen Befreiung, des Feminismus, des Kampfs gegen die kapitalistische Konsumgesellschaft mit ihren bürgerlichen Konventionen. Die erste Nummer von Charlie Hebdo erschien dann im November 1970, nachdem Hara-Kiri ein letztes Mal wegen eines allzu geschmacklosen Titelblatts anlässlich des Todes von General de Gaulle verboten worden war.
Charlie machte im selben Stil weiter. Vor allem nach dem 11. September 2001 geriet nicht nur der islamistische Terrorismus, sondern darüber hinaus der religiöse Fundamentalismus vermehrt ins Zentrum seiner bissigen Satire. Es war selbstverständlich, dass aus provokativer Solidarität die umstrittenen dänischen Mohammed-Karikaturen von Jyllands-Posten zusammen mit eigenen Zeichnungen im selben Stil abgedruckt wurden. Das trug den Herausgebern eine Klage des Vorstehers der Großen Moschee von Paris und der Integristen der Union des Organisations Islamiques de France (UOIF) ein, die 2007 vor Gericht mit einem Freispruch zugunsten der Pressefreiheit endete. In der Nacht zum 2. November 2011, am Tag vor dem Erscheinen einer Sondernummer mit dem spöttischen Wortspiel „Charia Hebdo“ als Titel, wurde die Redaktion durch einen Brandanschlag verwüstet. Gleichzeitig gab es Hackerangriffe aus der Türkei. Neue Drohungen kamen, als ein Spezialheft mit einer Comic-Biografie des Propheten Mohammed publiziert wurde.
Der Anschlag am 7. Januar
Die Risiken waren bekannt, die Redaktion stand seit dem Brandanschlag (mehr oder weniger permanent) unter Polizeischutz. Trotzdem war es nicht kompliziert, die neue Adresse von Charlie Hebdo in einer ruhigen Straße im 11. Arrondissement ausfindig zu machen. Im zweiten Stock ist an diesem 7. Januar wie jeden Mittwochmorgen die Redaktionskonferenz angesetzt, zudem hat der Karikaturist Luz Geburtstag.
Das sind Informationen, über die die beiden Attentäter Chérif und Saïd Kouachi verfügen. Doch unten beim Hauseingang gibt ihnen kein Schild einen Hinweis auf den richtigen Eingang. Zuerst gehen sie, vermummt und mit ihren Kalaschnikows schwer bewaffnet, ins falsche Treppenhaus. Ein tragischer Zufall will, dass in diesem Moment die Zeichnerin Coco eintrifft. Unter Waffendrohung wird sie von den beiden Französisch sprechenden Männern gezwungen, den Zahlencode zur Türöffnung einzugeben. Sie wird verschont. Auf ihrem Weg in die Charlie-Redaktion schießen die Terroristen den Hauswart nieder.
Niemand hindert sie daran, ins Haus einzudringen. Die Anwesenden sind überrascht, als die ersten Schüsse fallen, auch der Leibwächter Franck Brinsolaro kann nichts mehr ausrichten, die Brüder Kouachi rufen „Allahu akbar“ und schießen systematisch auf die Anwesenden, die meist vergeblich unter dem Tisch oder im angrenzenden Raum Schutz suchen oder stoisch sitzen bleiben, während sie exekutiert werden.
Besonders abgesehen haben es die Terroristen auf den Chefredakteur „Charb“ (Stéphane Charbonnier), den sie am Boden liegend töten. Außer ihm sind die Zeichner George Wolinski, Cabu (Jean Cabut) Tignous (Bernard Verlhac) und Philippe Honoré und als weitere Redaktionsmitglieder der Ökonom Bernard Maris, die Psychoanalytikerin Elsa Cayat, der Korrektor Mustapha Ourrad und der Journalist Michel Renaud sowie der Hauswart Frédéric Boisseau und der Leibwächter Brinsolaro tot. Der Kolumnist Patrick Pelloux, der kurz nach der Schießerei eintrifft, versucht erfolglos mehrere seiner Kollegen zu retten. Trotz seiner beruflichen Erfahrung als Notfallarzt ist er nachhaltig geschockt.
Blutbad im Supermarkt
Auf ihrer Flucht eröffnen die Attentäter zuerst das Feuer auf einen Streifenwagen der Polizei, die bereits alarmiert worden war, danach schießen sie auf den Polizisten Ahmed Merabet, der auf dem Fahrrad eintrifft. Einer der beiden Kouachi-Brüder steigt aus dem Auto aus, um den verletzten Beamten zu töten. Diese Szenen sind von einem gegenüber liegenden Gebäude gefilmt worden, wo eine Fernsehfirma untergebracht ist. Später rammen die Flüchtenden ein Fahrzeug, sie lassen ihren Citroën stehen und zwingen einen Autofahrer, ihnen seinen Renault Clio zu überlassen. Ihre Flucht ist überstürzt. Die Polizei ist ihnen auf den Fersen.
Am nächsten Tag tauchen sie bei einer Tankstelle im Norden von Paris auf, wo sie mit vorgehaltener Waffe Benzin und etwas Essen stehlen. Die ganze Gegend wird bereits abgesperrt. Noch einmal gelingt es ihnen, sich zu verstecken. Am Freitag rauben sie erneut einer Autofahrerin den Wagen, schließlich endet ihre ziellose Flucht in einer Druckerei in Dammartin-en-Goële, wo sie den Inhaber als Geisel nehmen. Nach einem ersten Schusswechsel am Vormittag stürmt eine Sondereinheit der Polizei das Gebäude, die Brüder Kouachi, die versuchen, sich den Weg frei zu schießen, werden getötet. Später bekennt sich der jemenitische Zweig der Terrororganisation al-Qaida zum Anschlag auf Charlie Hebdo, der von der Weltöffentlichkeit als Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt wird.
Noch während der Flucht von Saïd und Chérif Kouachi verübte ein dritter Terrorist einen blutigen Abschlag in dem jüdischen Geschäft Hyper Casher am südöstlichen Stadtrand von Paris. Amedy Coulibaly kennt die Brüder Kouachi und stand in Kontakt mit ihnen bei der Vorbereitung, er gibt in einem Anruf beim Sender BFMTV aber auch an, im Namen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu handeln.
Mobilisierung der Massen
Coulibaly hat gleich zu Beginn seiner Aktion vier Männer erschossen; als die Polizei schließlich das Geschäft stürmt, in dem er das Personal und zahlreiche Kunden als Geiseln hält, wird er ebenfalls getötet. Erst danach stellt sich heraus, dass er am Tag vor der blutigen Geiselnahme im Hyper Casher im Vorort Montrouge auf zwei Polizeibeamte geschossen und dabei eine Verkehrspolizistin getötet hatte. Es wird vermutet, dass Coulibaly ursprünglich einen Anschlag auf eine jüdische Schule geplant hatte und sich verfolgt fühlte. Die Polizistin und ihr Kollege waren zufällig wegen eines Unfalls dort.
Am folgenden Sonntag gehen in Paris und in vielen Städten Frankreichs und der Welt Menschen auf die Straße, um unter dem Slogan „Je suis Charlie“ die Freiheit der Satire und der Presse zu verteidigen. Zahlreiche ausländische Staats- und Regierungschefs, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel, reisen nach Paris. Nicht alle in Frankreich wollen sich jedoch so vorbehaltlos solidarisieren. Eine gewisse Malaise ist spürbar bei einem Teil der Muslime, die Charlie Hebdo die spöttischen Seitenhiebe auf ihren Propheten nicht verziehen haben.
Charlie Hebdo ist ein Märtyrersymbol der freien Meinungsäußerung geworden. Eine Woche nach dem Attentat erscheint eine Sondernummer in einer Großauflage von sieben Millionen Exemplaren. Das Cover zeigt die Karikatur eines weinenden Mohammed unter der Überschrift „Tout est pardonné“ (“Alles ist vergeben“). Intern wird heftig über die Linie debattiert. Eine Welle von Spenden und der sprunghafte Anstieg der Abonnements garantieren der Zeitung, die vorher am Rande des Bankrotts stand, auf Jahre hinaus das Erscheinen.
Rudolf Balmer ist Frankreich-Korrespondent der taz.
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