Das geteilte Erbe

Filmschau Das Zeughauskino zeigt das Gesamtwerk des größten taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-hsien

„Tong nien wang shi – A Time to Live, a Time to Die“ (1985) ist einer der vier großen autobiografisch inspirierten Filme Hous Foto: Taiwan Film Institute

von Fabian Tietke

Keine Minute liegt zwischen dem Mordauftrag, den Nie Yinniang bekommt, und dessen Ausführung. Nie Yinniang ist die titelgebende Protagonistin in Hou Hsiao-hsiens neustem Film „The Assassin“ – eine junge Frau, die von einer buddhistischen Nonne zur Auftragskillerin ausgebildet wurde. Als Yinniang bei einem Auftrag zögert, wird sie von ihrer Lehrerin in ihre Heimat geschickt, um den Militärgouverneur Tian Ji’an zu töten. Der Auftrag ist ein Test für die Entschlossenheit Yinniangs. „The Assassin“ beruht lose auf einer Pei Xing zugeschriebenen Kurzgeschichte aus dem neunten Jahrhundert, einem der zahlreichen Texte klassischer chinesischer Literatur mit einer kampferprobten weiblichen Protagonistin. Shu Qi verkörpert mit Yinniang einen neuen Typus weiblicher Heldin im Universum der Filme Hous.

Die Filme Hous haben schon bald nach dessen Regiedebut im Jahre 1980 ihren Weg auf internationale Festivals gefunden. Doch 35 Jahren Begeisterung zum Trotz sind sie außerhalb von Festivals nur selten im Kino zu sehen. Ab dem 12. Januar präsentiert das Zeughauskino nun alle 19 Regiearbeiten Hous in einer Werkschau, die der amerikanische Filmwissenschaftler Richard I. Suchenski zusammengestellt hat.

Hous Anfänge als Regieassistent und Drehbuchautor reichen in die Zeit zurück, als die Schatten des chinesischen Bürgerkriegs noch schwer auf Taiwan lasteten. Bis 1987 blieb das Kriegsrecht in Kraft, von Militärdiktator Chiang Kai-shek nach seiner Vertreibung vom Festland über das Land verhängt.

Hous Filme lassen sich als liberale historische Selbstvergewisserung verstehen

Hous erste drei Filme entstehen, noch bevor sich das neue taiwanesische Kino so recht formiert hat. „Cute Girl“, „Cheerful Wind“ (beide mit dem Hongkonger Popstar Kenny Bee) und „The Green, Green Grass of Home“ erweisen sich als kommerziell erfolgreich zu einer Zeit, als das taiwanesische Kino im Allgemeinen gegenüber dem Kino aus Hongkong kaum noch einen Fuß auf den Boden bekam.

Zwei Omnibusfilme markieren den Beginn der Filmbewegung: „In Our Time“ von 1982 und „The Sandwich Man“ von 1983. Die Segmente von „In Our Time“ stammen von Edward Yang (der im Jahr zuvor für einen Hongkonger Fernsehfilm in seine Heimatstadt zurückgekehrt war), von Zhang Yi, von Ke Yi-Zheng und von Tao De-chen. „In Our Time“ war erfolgreich genug, um die staatliche Produktionsfirma Central Motion Pictures Corporation (CMPC) dazu zu bringen, das Wagnis im Jahr darauf mit „The Sandwich Man“ zu wiederholen. Für „The Sandwich Man“ versammelte CMPC Hou Hsiao-hsien, Tseng Chuang-hsiang und Wan Jen. Der Programmtext zum Film verspricht zu Recht: „Alltagsgeschichten statt Genreformeln, location shooting statt Studiokulisse ...“ - zum Skandal wird der Film in den Augen einiger konservativer Politiker dennoch. Nach seinem Beitrag zu „The Sandwich Man“ tut sich Hou Hsiao-hsien mit einer der bekanntesten Schriftstellerinnen Taiwans zusammen. Gemeinsam mit Chu Tien-wen wendet sich Hou autobiografisch inspirierten Filmen zu, offeneren Erzählformen und sucht neue ästhetische Formen für diese filmische Erinnerungsarbeit. Der erste Film, der aus dieser Suche hervorgeht, ist „The Boys from Fengkuei“. Es folgt eine Trilogie bestehend aus den Filmen „A Summer at Grandpa’s“, „A Time to Live, A Time to Die“ und „Dust in the Wind“. Hous Filme lassen sich in ihren epischen Qualitäten verstehen als Entwurf zu einer liberalen historischen Selbstvergewisserung zu einer Zeit, als sich Taiwan in einer Übergangsphase befand. Hous neuster Film lotet schon die nächste Übergangsphase aus: „The Assassin“ entstand als Koproduktion zwischen Taiwan, Hongkong und der Volksrepublik. Ein Schwertkampffilm, ein wuxia, als geteiltes Erbe. Anders als Tsui Harks Subversion des imperialen Bombasts der Volksrepublik mit den Mitteln des Blockbusters, setzt Hou ganz auf gespannte Beiläufigkeit. Wie die Protagonistin ihr Opfer umschleicht die Kamera das Geschehen in den Innenräumen der Macht in elliptisch driftenden Bewegungen.

Also like Life. Die Filme Hou Hsiao-hsiens, Zeughauskino Berlin, 12. 1 . 2016–11. 2. 2016

Im Januar erscheinen „In Our Time“ und „The Sandwich Man“ beim taiwanesischen Label JSDVD auf BluRay.