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Aus Angst nicht in die Schule

NIGERIA Die sozialen Folgen des westafrikanischen Terrorismus sind erschreckend. Trotzdem geraten sie häufig in Vergessenheit und schaffen neue Probleme

Von Katrin Gänsler

COTONOU taz | Die aktuellen Zahlen aus Nigeria sind besorgniserregend: Das UN-Kinderhilfswerk der Unicef schätzt, dass mehr als eine Million Mädchen und Jungen im Nordosten des Landes nicht mehr zur Schule gehen. Grund dafür ist die Terrormiliz Boko Haram. Die Regierung betont zwar ständig, wie erfolgreich der Kampf gegen sie läuft. Über die gesellschaftlichen Auswirkungen verliert sie jedoch kaum ein Wort.

Dazu gehört, dass aufgrund der Terrorgefahr laut Unicef mehr als 2.000 Bildungseinrichtungen geschlossen wurden. Alleine in Nigeria sollen mehr als 600 Lehrer ermordet worden sein. Betroffen sind aber auch die Grenzregionen in Kamerun, Tschad und Niger, in denen die Terroristen längst Anschläge verüben. Die Angst vor einem Schulbesuch ist weiterhin groß, denn die Miliz hat in den vergangenen Jahren gezielt Bildungseinrichtungen angegriffen. Trauriger Höhepunkt war der Überfall in Chibok imBundesstaat Borno. Von den 276 Schülerinnen, die im April 2014 entführt wurden, gelten 219 weiter als vermisst. Schon in den Jahren zuvor hatte Boko Haram mehrfach Schulen überfallen und Kinder ermordet. Die Weltöffentlichkeit interessierte sich jedoch wenig dafür.

Dabei ist Nigeria ohnehin schon trauriger Spitzenreiter in den regelmäßig von Unicef veröffentlichten Schulrankings. Es wird geschätzt, dass auch ohne Boko Haram bis zu zehn Millionen Kinder im Grundschulalter dem Unterricht fernbleiben. In ländlichen Regionen müssen sie stattdessen auf den Feldern mithelfen. Mädchen werden früh verheiratet. Laut Girls Not Brides, einer Initiative gegen die Zwangsverheiratung von Minderjährigen, waren noch 2013 17 Prozent aller Mädchen bei ihrer Hochzeit jünger als 15 Jahre.

Dabei gilt ausgerechnet mangelnde Bildung als eine der Hauptursachen, weshalb die Terrormiliz weiterhin Zulauf erhält. Denn längst nicht alle Anhänger sind religiöse Fanatiker, die die Scharia in aller Härte umsetzen wollen. Viele Mitläufer hoffen auf den sozialen Aufstieg, der in Nigeria immer schwieriger und ohne Schulbildung und entsprechenden sozialen Verbindungen so gut wie unmöglich ist.

Die Menschen ­müssten spüren: Der Staat ist da und kümmert sich

„Regierungen müssen Jugendlichen deshalb Angebote machen. Sie müssen in der Lage sein, einen Sinn in ihrem Leben zu sehen“, sagt Christopher Fomunyoh, Direktor für Zentral- und Westafrika im Nationalen Demokratie-Institut (NDI), einem US-amerikanischen Institut. Außerdem müssten jungen Leute, meist sind es Männer, das Gefühl haben: In diesem Land habe ich eine Zukunft.

Das gelte jedoch nicht nur in der Region, in der Boko Haram aktiv ist. „Es ist auch ein Problem am Horn von Afrika sowie im Norden Malis“, so Fomunyoh weiter. Auch dort sind staatliche Strukturen kaum existent.

Für den Rechts- und Politikwissenschaftler aus Kamerun ist Schulbesuch deshalb die wichtigste Maßnahme, Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen. Die Bewohner müssten spüren: Der Staat ist da und kümmert sich. Das dürfte besonders für entlegene Regionen gelten. Am Tschadsee und damit eine Tagesreise von der Hauptstadt Abuja entfernt ist Boko Haram groß geworden. Auch der Norden Malis steht seit vielen Jahren nicht mehr unter Kontrolle der Regierung in Bamako. Für mutmaßliche Täter ist es leicht, sich unbemerkt in Nachbarländer zurück zu ziehen. Gleichzeitig boomt der Handel mit Waffen und Drogen. Westafrika-Experte Fomunyoh ist daher sicher: Wenn diese Probleme nicht angegangen werden, wird sich auch in Zukunft nichts ändern: „Selbst wenn Boko Haram militärisch besiegt wird, entsteht dann einfach die nächste Rebellengruppe.“

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