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Das Große und Kleine im Leben

Kunst Trafo in Stettin ist das jüngste Zentrum für zeitgenössische Kunst in Polen. Dort sind jetzt frühe Videoarbeiten Alicja Kwades zu sehen – ein echter Coup

VON Tobias Asmuth

Bis vor ein paar Jahren gab es in Berlin gerade bei Zugezogenen einen eigentümlichen Stolz darauf, in einer Stadt zu leben, in der noch Spuren des Zweiten Weltkriegs zu entdecken waren. Diese Einschusslöcher-Romantik gehörte unbedingt zum Image der Nachwendestadt dazu. Im Vergleich zu vielen polnischen Städten in der unmittelbaren Nachbarschaft war das schon damals nicht mehr als eine verblassende Attitüde.

Zum Beispiel Stettin: Hier gibt es ein paar liebevoll restaurierte Hansehäuser, viel sozialistische Tristesse, meist wenig gelungenes Investoreneinerlei, gerne in verspiegeltem Glas, und es gibt bis heute mitten in der Stadt überwucherte Trümmergrundstücke an Kopfsteinpflastersträßchen, die keine Funktion mehr haben und im Nirgendwo enden. „Stettin wurde während des Kalten Krieges von Warschau lange Jahre ignoriert“, sagt Mikolaj Sekutowicz, Direktor des Trafo, des neuen Zentrums für zeitgenössische Kunst in Stettin, „erst seit der Wende wird ungebremst investiert, wächst Stettin wie fast alle Städte in Westpolen rasant.“ Hier sei daher genau der richtige Ort für zeitgenössische Kunst, die es in Polen, in einer eher konservativen Gesellschaft, nicht immer leicht habe.

Trafo existiert seit 2012, ist stilvoll im historischen Gebäude einer Transformatorenstation untergebracht, nahe dem Oderhafen, von dem früher die Schwerindustrie des nahen Berlin mit Rohstoffen versorgt wurde. Trafo will solche historischen Plattenverschiebungen thematisieren, nationale Wechselwirkungen aufgreifen, wandelnde Identitäten in seinem Programm spiegeln. „Grenzen sind für uns nur dann interessant, wenn sie künstlerisch transformiert werden können“, sagt Sekutowicz.

Im Pendelschlag

Die einzige Landkarte, die für ihn eine Rolle spielt, sei die der zeitgenössischen Kunst, auf der er Trafo verorten will, was bisher – trotz geringen Budgets – gut klappt. Jetzt ist Trafo mit der ersten Einzelausstellung von Alicja Kwade in Polen ein Coup gelungen. Die 1979 in Kattowitz geborene, in Berlin aufgewachsene und lebende Künstlerin wird aktuell vom internationalen Kunstbetrieb bestaunt.

Im Zentrum der Ausstellung steht ihre Arbeit „Nach Osten“, die der Schau den Titel leiht: Eine Glühbirne schwingt an einem Seil im Pendelschlag durch die 15 Meter hohe ehemalige Transformatorenhalle. Sie umläuft täglich einmal die eigene Achse, erforscht die Dunkelheit, schafft für Momente immer neue helle Zonen. Das sausende Geräusch des Pendels wird über Lautsprecher verstärkt, bildet eine monotone Klangkulisse, die in der ganzen Ausstellung zu hören ist, auch in den Räumen, in denen frühe Videoarbeiten Kwades zu sehen sind.

Spannend ist es, in den Filmen und Loops Motive zu entdecken, die heute auch Kwades Installationen auszeichnen. In „Space Zimmer“ von 2003 und „Lichtgeschwindigkeit“ von 2004 erwachen Lampen zu Leben, drehen sich elegant auf Schreibtischen, schauen um Ecken in Bücherregale, besetzen verlassene Zimmer. Kwade schafft in diesen Arbeiten raffinierte Bühnenbilder, in denen Raum und Zeit durch kleine Manipulationen ins Fließen und die Funktion der Dinge ins Rutschen geraten. Auch die Videoinstallation „Thoas, Agrios, Gratios“ von 2009 spielt mit der Wahrnehmung. Auf den Wänden im Keller des Trafo fliegen drei nach griechischen Sagengestalten benannte Asteroide in Zeitlupe, sich drehend und überschlagend, durch das All. Die Kamera begleitet und verfolgt sie auf ihrer Bahn, tastet die Krater und Furchen ihrer Oberflächen ab. Thoas, Agrios, und Gratios aber sind Kieselsteine, daumengroß liegen die Hauptdarsteller des Videos gut ausgeleuchtet auf Podesten – allerdings nicht in der Ausstellung, sondern gegenüber dem Trafo hinter den Backsteinmauern der mittelalterlichen Heiliggeistkirche.

„Der Pfarrer hat am Sonntag sogar über die Arbeit gepredigt“, erzählt Sekutowicz. Es ging wohl um das Große und Kleine im Leben. Die Tatsache der Zusammenarbeit gefällt Sekutowicz, zumal die Kirche Sitz des lokalen Ablegers des konservativen katholischen Radios Marija ist, deren Macher nicht unbedingt lebhaftes Interesse an zeitgenössischer Kunst nachgesagt werden kann. Trafo aber will in Stettin in die Stadtgesellschaft hineinwirken, Debatten anstoßen, Positionen beziehen. Nach dem überwältigenden Sieg von Jarosław Kaczyńskis rechtsnationaler Partei „Recht und Gerechtigkeit“ bei den Parlamentswahlen vor wenigen Wochen sei das dafür genau die richtige Zeit, so Sekutowicz. Er sieht Polen nicht auf dem Weg, ein zweites Ungarn zu werden – dafür seien die Menschen zu unabhängig und zu streitlustig. „Auch die Regionen spielen eine wichtige Rolle als Gegengewicht zum Zentrum Warschau.“ Im Westen Polens habe sich ein eigenes Selbstbewusstsein gebildet: „Man schaut nach Europa und will sich keine Grenzen einreden lassen, schon gar nicht von der Vergangenheit.“

Bis 28. Februar, Trafo Center for Contemporary Art, Stettin

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