„Indien kämpft gegen die Unvernunft“

COURAGE Die 88-jährige Schriftstellerin Nayantara Sahgal hat den Sahitya-Akademie-Preis zurückgegeben. Die Nichte von Indiens Staatsgründer Jawarharlal Nehru löste so eine Protestbewegung aus

„Die meisten Hindus in Indien schätzen unsere Vielfalt“: Demonstration gegen Intoleranz in Neu-Delhi, 30. 11. 2015 Foto: Manish Swarup/ap

INTERVIEW Fabian Heppeund Marius Mühlhausen

taz: Frau Sahgal, Professor Kalburgi, ein Kritiker des fundamentalistischen Hindu-Nationalismus in Indien, wurde im August erschossen. In welchem Zusammenhang dazu stand ihre Entscheidung, den Preis der Sahitya-Akademie zurückzugeben?

Nayantara Sahgal: Ich habe erwartet, dass die Ermordung von Kalburgi dazu führt, dass die Sahitya-Akademie sich für die Meinungsfreiheit in Indien starkmacht und die Morde aufs Schärfste verurteilt. Schließlich ist auch Kalburgi ein Preisträger und wurde zum Opfer von Hindu-Nationalisten, die ihn aufgrund seiner Äußerungen ermordeten. Das Schweigen der Akademie ist genauso skandalös wie die Tatsache, dass seine Mörder bis heute nicht festgenommen und nicht bestraft wurden.

Kurz darauf wurde ein Muslim von einem Mob gelyncht. Die Leute warfen ihm vor, Rindfleisch gegessen zu haben. Wofür stehen diese Morde?

Indien erlebte dieses Jahr eine Welle von Hass und Gewalt, die gegen all jene gerichtet ist, die sich nicht der Ideologie der Hindu-Fundamentalisten unterordnen möchten. Die Gewalt zielt darauf ab, unser multi­religiöses und multikulturelles Land in einen Hindu-Staat zu verwandeln. Gefährlich ist auch, dass diese Eiferer eng mit der regierenden Bharatiya-Janata-Partei (BJP) verbandelt sind.

Welche Rolle spielt dabei Ministerpräsident Narendra Modi?

Die Verbrechen wurden von Modi nicht in der gebotenen Schärfe verurteilt. Er schweigt, denn die Menschen, die in diese Gewaltakte verwickelt sind, gehören zu seiner Wählerschaft. Sie sind Verbündete und aktive Unterstützer seiner Partei. Modis heutiges Handeln gleicht seinem Verhalten als Regierungschef des Bundesstaats Gujarat. Hier kam es im Jahr 2002 zu einem Massaker von einem Hindu-Mob an mehr als 2.000 Muslimen – und Modi? Er blieb stumm.

Ihrem Beispiel folgten zahlreiche Schriftsteller und gaben ihre Auszeichnungen zurück. Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, Filmemacher, Soziologen und Wissenschaftler machen sich stark für ein freies Indien.

Die Stimmen richten sich gegen die Angriffe auf Andersdenkende und ertönen aus ganz Indien mit unterschiedlichen Schlagrichtungen: Historiker protestieren dagegen, dass unsere Geschichte durch hinduistische Mythen ersetzt wird. Wissenschaftler streiten für den Erhalt ihrer kritischen Profession. Dieser Aufstand ist ein Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft. Wir fordern, die Türen des Wissens und der Kreativität offen zu halten. Die Vielfalt der Ideen, der Standpunkte und unterschiedliche Lebens- und Denkweisen hat Indien in den vergangenen Jahrhunderten belebt und bereichert. Sie gilt es zu erhalten.

Nayantara Sahgal

Foto: Penguin India

geb. 1927, ist eine prominente indische Autorin. Sie gehört zur Nehru-Gandhi-Familie, die lange Zeit die Geschicke der indischen Politik bestimmte. Sie war eine scharfe Kritikerin ihrer Cousine, der indischen Premierministerin Indira Gandhi, die 1984 bei einem Attentat von extremistischen Sikhs ermordet wurde.

In einer Wahl im indischen Teilstaat Bihar mit mehr als 100 Millionen Einwohnern ver­lor die BJ-Partei von Modi jüngst deutlich an Zuspruch. Signalisiert das bereits eine Wechselstimmung?

Im Bundesstaat Bihar haben sich die Menschen klar gegen die aktuelle Regierung ausgesprochen. Die nächsten Wahlen in anderen Bundesstaaten werden zeigen, woher der Wind jetzt wirklich weht. Der einzig richtige Weg in einer Demokratie ist es nun, diese Regierung und ihre Politik abzuwählen. Die Oppositionsparteien im Bundesparlament haben dazu aufgerufen, die wachsende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden in parlamentarischen Debatten zum Thema zu machen. Modi und seine Regierung sind nun gezwungen, zu reagieren.

Frau Sahgal, Sie sind Teil der Nehru-Gandhi-Familie und Nichte des Staatsgründers Jawaharlal Nehru. Ihnen wird vorgeworfen, dass Sie mit ihrem Protest eine eigene politische Agenda verfolgen.

Meine „politische Agenda“ hat nichts damit zu tun, dass ich einer bestimmten Familie angehöre. Tausende von Indern haben sich dem Kampf für den Erhalt einer säkularen indischen Republik angeschlossen. Unsere Verfassung garantiert sie genauso wie die individuellen Freiheitsrechte. Die meisten Hindus in Indien schätzen unsere Vielfalt. Sie zu erhalten, ist unsere Aufgabe.